Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Beste.
    Die Eingangstür geht auf. Luke bellt von irgendwo im Haus.
    «Wir sind in der Küche», sage ich, darauf bedacht, nicht zu schreien. Aber dann platzt es aus mir heraus, ich wiederhole es, und diesmal schreie ich.
«Wir sind in der Küche, Pa.»
    Dass er nur schnell reinkommt, ist mein einziger Gedanke. Rette mich vor dem Drachen.

    Ein- oder zweimal habe ich meine Mutter und meinen Vater im Schlafzimmer beim Geschlechtsverkehr gehört, aber das ist lange her. Ma klingt wie eine Eule und Pa wie ein Schaf. Als Helene und ich noch klein waren, haben wir sie überall im Haus beim Küssen erwischt. Pa hat sie immer so abgeküsst, dass Ma nachher aussah,als käme sie gerade aus der Badewanne. Kürzlich hat Pa wieder einen Annäherungsversuch gemacht, aber sie ist nicht sehr interessiert. Er macht Späße und versucht sie anzufassen, aber meistens hat er Pech. Ma ist ziemlich schnell, wenn sie es drauf anlegt.
    Jeden Tag nach dem Abendessen geht Pa mit Luke spazieren. «Kommt jemand mit?», fragt er dann. Meine Standardentschuldigung sind Schularbeiten, und Ma ist eben Ma. Außer zur Arbeit verlässt sie kaum jemals das Haus. Neuerdings antwortet sie ihm nicht einmal. Aber mein Pa fragt trotzdem, er war schon immer der Optimist in der Familie. Kein Zweifel, er ist einer, der die Welt retten könnte, die Frage ist nur, ob Ma ihn lässt. Vielleicht will sie, dass alles in Flammen aufgeht.
    Als Pa heute Abend fragte, ob jemand mitkomme, habe ich Ja gesagt. Ma sah mich an, als wäre ich eine Betrügerin.
    «Was denn?», sagte ich. «Früher bin ich dauernd mit Luke gegangen.» Ich wollte ihr zeigen, dass manche mehr tun als nur herumsitzen und rauchen. Dass man aufwachen kann, wenn man will.
    «Dann hol deinen Mantel», sagte Pa. Er schien nicht gerade begeistert über meine Begleitung. Es kam mir in den Sinn, dass er auf seinen Spaziergängen vielleicht heimlich irgendwohin ginge, wo er mit mir nicht hingehen könnte. Vielleicht auch nur, dass ich seine heimlichen Gedanken unterbräche.
    Wir gingen nur einmal um den Block, nichts Besonderes. Ein paar Leute winkten uns zu, und wir winkten zurück. Luke bellte ein paar Hunde an. Vor einem Haus stand immer noch ein Schild auf dem Rasen BRINGT UNSERE TRUPPEN NACH HAUSE , und ich konnte mich nicht einmal erinnern, dass wir überhaupt noch Truppen drüben hatten. Ich glaube, irgendwo haben wir immer Truppen, allein schon deswegen, weil es ein Zeitalter des Terrorsist. Aber komischerweise hatte ich auch vollständig vergessen, wo «drüben» eigentlich war. Helene hätte es gewusst, sie war sehr politisch für ihr Alter. Ma und Pa waren auch einmal politisch, große Marschierer seinerzeit. Ich glaube, jetzt sind sie egoistischer. Das ist es wohl, was der Tod mit den Menschen macht.
    Als Pa sich mit der Tüte bückte, um Lukes Häufchen einzusammeln, sah ich eine kleine kahle Stelle auf seinem Kopf. Plötzlich ging mir auf, dass ich gar nicht genau wusste, wie alt mein Pa eigentlich war. Ich weiß, sehr alt kann er nicht sein, aber eine kahle Stelle, auch wenn sie noch so winzig ist, zeigt eindeutig den Zahn der Zeit. Ich versuchte mir Pa mit Glatze vorzustellen, musste aber schnell abschalten. Es war wie ein Monsterfilm im Kopf.
    Luke blieb stehen, um etwas zu schnüffeln, und wir warteten. Wir standen da wie zwei Fremde an einer Bushaltestelle. Schließlich gab ich Luke einen kleinen Tritt, nicht heftig, nur einen Freundschaftstritt. «Nun geh schon», sagte ich.
    «Sei nett», sagte Pa, also gab ich Luke ein Wiedergutmachungsküsschen direkt auf die Schnauze, und schon wackelte sein ganzes Hinterteil. Ich machte es ihm nach und wackelte mit meinem. Pa lachte. Als ein Flugzeug über uns hinwegflog, fing Luke an zu bellen. Es war dunkel dort oben und die Lichter der Maschine hell erleuchtet. Das ist etwas, was mir immer noch Angst einjagt. Mir wäre es recht, in meinem ganzen Leben kein einziges Flugzeug mehr zu sehen. In unserem Geschichtsbuch ist ein Bild von den brennenden Türmen. Ich war noch ein Kind, als es passierte, aber solche Sachen, die lassen sie einen nicht vergessen.
    Ich fragte mich, was Ma wohl machte, ob sie schon im Bett war, gesund und munter, wie man so schön sagt? Ich konnte sie mir genau vorstellen, nackt unter der Decke. Und Pa, der später hineinschlüpft wie eine Maus. Ma schläft links und Pa schläft rechts, undjeder hat ein Nachtschränkchen an seinem Kopfende. Auf den Schränkchen steht je eine Leselampe, und dann ist da noch das Fach für ihre

Weitere Kostenlose Bücher