Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Briefkasten gemalt. In den Bäumen sind Tauben und machen Geräusche wie träumende Hunde. Ein fetter Vogel steht mitten auf der Straße, und als ein Auto kommt, fliegt er nicht mal weg. Er watschelt nur rüber, so schnell er kann. Mir ist unbegreiflich, warum er seine Flügel nicht benutzt. Wenn ich ein Vogel wäre, würde ich keine Gelegenheit auslassen, um die Flügel zu nehmen, auch für den kürzesten Weg.
    Als ich auf das Haus zugehe, wünsche ich mir, ich könnte mich unsichtbar machen. Mein ganzer Körper würde blass und blasser, bis er weg wäre. Und dann ginge ich direkt durch die Wände, direkt in sein Schlafzimmer. Wer ist da?, würde er sagen, und er würde anfangen zu zittern.
    Es ist ein großes Haus, bräunlich, nichts Besonderes. Aber ein bisschen frische Farbe könnte es dringend gebrauchen. Aus irgendeinem Grund kann ich nicht klopfen. Ich stehe einfach da wie ein Idiot. Als meine Faust schließlich an der Tür landet, ist das Klopfen jämmerlich, vollkommen kraftlos. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich befehle mir selbst, zu klopfen. Nach ein paar Sekunden gehorchen meine Hände. Es pocht, eins zwei drei, aber diesmal lauter, als ich wollte. Als ich höre, wie der Riegel aufgeschoben wird, wird mir so flau, als würde ich gleich ohnmächtig.
    «Ja bitte?»
    Es ist eine Frau mit fettigen langen Haaren. Sie sieht mächtig dick aus, aber vielleicht hat sie nur so viele Sachen an. Alles übereinander, wie eingebündelt. Auf den ersten Blick denke ich an ein Walross.
    «Wer ist da?», fragt sie. Sie guckt mich seltsam an, nicht direkt mich, eher schräg an mir vorbei. Auch ohne dunkle Brille wird mir klar, dass sie blind ist.
    «Tut mir leid», sage ich. «Ich wollte nur…»
    «Ich glaube, ich bin falsch.»
    «Helene?», sagt sie. «Bist du das?» Plötzlich erhellt ein Leuchten ihr Gesicht, und sie ist ein anderer Mensch.
    «Nein», sage ich, aber das Wort bleibt mir in der Kehle stecken.
    «Kommst du Louis besuchen?», sagt sie, und ihre Hand fliegt auf ihre Brust, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen.
    «Tut mir leid», sage ich noch einmal und bewege mich langsam von der Tür weg.
    «Du brauchst dich nicht entschuldigen», sagt sie. «Du glaubst ja nicht, wie der sich freuen wird, wenn er dich sieht.»
    Sie schüttelt den Kopf und lacht. «O Wunder aller Wunder!»
    Ich weiche in winzigen Schritten auf den Rasen zurück, ganz vorsichtig, damit ich kein Geräusch mache.
    «Bist du da, mein Herz?»
    Paddelnd streckten sich ihre dicken Arme aus der Türöffnung, als wollten sie nach mir greifen. Da wusste ich endgültig, wo ich war. Im Land der Toten. Alles stand auf dem Kopf.
    «Er ist hintenrum», sagt das Walross. «Du weißt ja, wo.»
    «Helene?»
    Ich versuche zu sprechen, aber es kommt nichts heraus, nur ein grässlicher kleiner Laut, schlimmer als bei Lucy Mond.
    «Nun geh schon», sagt sie. «Und klopf feste, kann sein, dass er schläft.» Ihr Lächeln flackert wie eine Kerze. «Er hat’s so schwer gehabt in letzter Zeit.»
    Renn!
Das Wort fährt mir wie ein Spieß quer durchs Gehirn. Aber komischerweise gehe ich nach hinten, um das Haus herum.
    «Gutes Mädchen», sagt das Walross. Vermutlich hört sie meine Füße auf dem Laub.
    Ich gehe langsam, und sie beobachtet mich, wie Blinde einen beobachten. Mit ihren unsichtbaren Tentakeln, ihren geheimen Sinnen.
    «Kalt hier draußen», sagt sie, indem sie aus dem Haus tritt. Sie steht jetzt auf der Veranda, die Tür hinter ihr sperrangelweit geöffnet, und zieht irgendwo aus ihren Walrossfalten ein Päckchen Zigaretten. Sie starrt in die Bäume hinauf, wo die Tauben sind. Dann zündet sie ein Streichholz an und hebt es vors Gesicht.
    «Wir haben dich vermisst», sagt sie in den Rauch, den sie aus ihrem Mund bläst. Ich weiß nicht, ob sie mit mir spricht oder mit den Tauben. Klingt meine Stimme denn so ähnlich wie Helenes?, frage ich mich.
    Je weiter ich mich voranwage, umso grasiger und grasiger wird die Landschaft. Hier hat seit Ewigkeiten niemand mehr gemäht, das Gras ist hoch und braun. Überall sind seltsame stachelige Pflanzen aus dem Boden geschossen. Und dazu verwilderte Büsche und Bäume. Manche klappern wie Schlangen, als ich vorbeigehe. Hinter dem Gewucher ist etwas Weißes. Ich arbeite mich durch einen Dschungel knochendürrer Krautpflanzen, und da sehe ich das kleine Haus. Eine Bruchbude, die sich hinter dem ganzen Schlamassel versteckt.
    Dann finde ich den Weg. Keinen richtigen Weg, nur eine Spur, wo Gras und Unkraut

Weitere Kostenlose Bücher