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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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vom Hin- und Herlaufen platt getrampelt sind. Je näher ich komme, umso weniger gefällt mir der Anblick. Hinter dem kleinen Haus nichts als Berge und Felsen. Kein sicherer Ort für ein Mädchen. Eine Festung im Wald ist nichts dagegen. Ma würde fuchsteufelswild, wenn sie das wüsste. Ihre Stimme klingt mir in den Ohren.
Warum bleibst du nicht zu Hause. Gehnicht aus dem Hof. Spiel in deinem Zimmer.
Jetzt, wo es zu spät ist, wird mir klar, dass es keine Strafe war. Sie wollte mich nur beschützen.
    Das kleine Haus ist von Rosen umgeben, und ich verstehe nicht, warum sie blühen. Um diese Jahreszeit möchte man doch meinen, sie würden alle sterben. Aber hier sind sie frisch und munter, rosa, weiß und leuchtend rot. Erschreckende riesige Büsche, vollkommen außer Rand und Band. Ich gehe einen Schritt näher heran, und plötzlich schnappt mir jemand aus dem Hinterhalt die Mütze vom Kopf. Ich schreie. Wild mit den Fäusten schlagend drehe ich mich um, aber es ist nur ein blöder Ast, der mich gefoppt hat. Meine Mütze baumelt in der Luft. Ich packe sie und stülpe sie mir wieder über den Kopf. Beinahe fange ich an zu weinen. Ich beiße mir auf die Lippe, um ruhig zu bleiben, aber ich beiße zu fest und schmecke Blut.
    Als ich mich dem Haus zuwende, steht ein Mann im Eingang. Barfuß und mit offenem Hemd. Ich sehe etwas Haar auf seiner Brust. Und das Schlimmste, ich sehe nur eine Hand.
    «Wer bist du?», sagt der Mann.
    «Niemand», sage ich.
    «Warum schreist du so? Hää? Was machst du hier?»
    Er hat etwas Fieses, etwas Unberechenbares an sich. Ich versuche, meine Übelkeit zurückzuhalten, damit ich nicht ins tote Gras kotze.
    «Das ist privat hier.»
    «Ich …»
    «Was willst du?»
    Ich hole tief Luft. Ich schmecke immer noch Blut auf meinen Lippen.
    «Ist Ihr Sohn da?», sage ich. Obwohl er nicht so alt aussieht, dasser einen Sohn in Helenes Alter haben könnte. Aber ich wusste, der Mann vor mir war nicht Louis. Weil nicht nur die Hand fehlte. Der ganze linke Ärmel sah irgendwie leer aus, wie er einfach so herunterhing.
    «Wen suchst du?»
    Ich mache zwei Fäuste und presse sie gegen meine Beine.
    «Louis», sage ich.
    «Ich versteh dich nicht», sagt der Mann. Er zieht sein Hemd zusammen und starrt mich an, aber ich halte dem Blick stand.
    «Ich bin Helenes Schwester», sage ich.
    Er weicht einen Schritt zurück. Es ist eines der Millionen Jahre, die in Sekunden passieren. Wir beide leben und sterben tausendmal.
    «Wo ist sie?», sagt er.
    «Wo ist sie?» Als er es wiederholt, sehe ich, dass er vor Kälte zittert.
    «Was glaubst du denn, wo sie ist?», frage ich ihn.
    Bitte, bitte hab die richtige Antwort
, ist der Gedanke in meinem Kopf.
    «Ich weiß nicht», sagt er. «Ich habe keine verdammte Ahnung.»
    Jetzt ist er der mit Vögeln in der Stimme. Die ganze Härte weicht von seinem Gesicht. Er streicht sich das Haar aus den Augen.
    «Warum ist sie nicht …» Er blinzelt, als wäre er gerade aufgewacht. Er reibt sich die Augen. Ich kann wohl sagen, er ist ziemlich verwirrt.
    «Ich habe die ganze Nacht gewartet», sagt er. «Verdammt.»
    Aber die wirkliche Frage ist, auf wen hat er gewartet? Auf die Lebende oder die Tote?
    Er fängt an, sein Hemd zuzuknöpfen. Ich weiß nicht, wie er das hinkriegt mit einer Hand. Es ist wie ein Zaubertrick. Er guckt misstrauischan mir vorbei, als fürchtete er, es wäre jemand da, der uns beobachtet.
    «Bist du allein?», fragt er.

Vierzig
    Wie passieren Sachen? Wie passiert das eigene Leben? Die meiste Zeit geht es zu langsam, und manchmal sogar rückwärts. Aber dann, eines Tages, wirst du in die Zukunft geschossen, und da bist du, schwups, steckst du mittendrin. Die Zukunft sollte wie Wasser sein, aber sie ist wie Matsch. Man sackt einfach ab.
    Louis macht mir eine heiße Schokolade, obwohl ich gesagt habe, mir sei nicht kalt. Er macht einen Riesenwirbel um ein paar Tassen und Löffel, und sein Körper ist schlimmer als meiner, er zittert von oben bis unten. Während er auf das kochende Wasser wartet, kehrt er mir den Rücken zu. Er klaubt verstohlen ein paar Pillen aus einem Medizinfläschchen und spült sie mit Cola runter.
    «Eine Sekunde, bin gleich wieder da», sagt er. Er macht jetzt ganz auf guter alter Freund, als wäre es das Normalste von der Welt, dass ich hier bin.
    Im Haus ist es überraschend sauber. Es gibt viel Krempel, aber alles in sauberen Stapeln. CDs und zusammengefaltete Kleidung und Zeitungen. Die geschichteten Taschenbücher auf dem Tisch sehen

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