Matrjoschka-Jagd
ließen sich kurieren, in teuren Hotels, wie das Grandhotel Belvedere eines war. Aber das konnten sich nur die Reichen leisten. Wer Geld hatte, brauchte nicht zu leiden. Oder zumindest etwas weniger dank teuren Medikamenten und dabei in einer schönen Umgebung, bei gutem Essen, in einem weichen Bett.
Da spürte Elsi Klopfenstein, wie der Trübsinn sie wieder einfing: der Herbst. Da konnte die Luft noch so frisch und klar sein, die Blätter noch so leuchten und Funken sprühen, die Kälte hing drohend über dem Tal und seinen Bewohnern, sie breitete sich langsam aus, kroch herunter vom ewigen Eis und Schnee, von den Berghängen, um sich für viele Monate hier unten festzuhocken und den Alten die Schmerzen aus den Knochen zu reißen.
Die Kälte hatte ihre Boten früh geschickt in diesem Jahr. Vor Wochen schon war in einer Nacht bis weit ins Tal hinunter Schnee gefallen. Die Kurgäste standen mit leuchtenden Augen an den Fenstern, als sich an jenem Morgen die Berge blendend weiß gegen den blauen Himmel abhoben. Nur Elsi Klopfenstein hatte keine Freude daran gehabt. Wenn der Winter kam, dann blieb er lange im Tal, viel zu lange, und bis er da war, verdarben Nässe, Kälte und Dunkelheit die Tage und es wurde ihr kalt und trüb, bis in die tiefste Seele hinein.
Elsi Klopfenstein erinnerte sich genau, wie sie das Fahrrad, so wie jeden Morgen, an die Bretterwand stellte, ein großes kariertes Taschentuch hervorzog und sich schnäuzte, dabei den Nebelschwaden nachschaute, die sich an der gegenüberliegenden Talseite über die Höhen hinweg zurückzogen.
Der See lag friedlich da. Die grüne Haube eines Erpels leuchtete in den ersten Sonnenstrahlen auf. Ein unscheinbares Weibchen folgte ihm. Seltsam, dass nur die Männchen so silbergrün glänzten. Sonderbare Natur. Schön ja, auch schön, aber Schönheit brachte nicht immer nur Freude.
Ein langer Tag lag vor ihr. Die stechenden Schmerzen hatten sich mittlerweile auch in den Fingergelenken festgesetzt. Sie steckte das Taschentuch weg, rieb sich die eiskalten Knöchel und wärmte sie in ihren Achselhöhlen. Auch ihr dickes Holzfällerhemd war nicht mehr warm genug. Sie hatte das grünschwarze angezogen, es war etwas neuer als das rotschwarze und deshalb eine Spur dicker und wärmer. Die Jeans, die sie vor Jahren auf dem Markt gekauft hatte, waren mit der Zeit etwas dünn geworden. Trotzdem waren diese Hosen ihrer Ansicht nach das einzig Gute, was die Amerikaner zustande gebracht hatten. Sogar ihre Präsidenten, die immer lächelten mit ihren großen, weißen Zähnen, auch wenn sie eben dabei waren, die Welt zu bombardieren, ließen sich in Jeans fotografieren. Im Frühling und im Herbst trug Elsi Klopfenstein ihre grünen Gummistiefel, weil die Regennässe um ihre Bude herum nicht mehr trocknete.
Elsi Klopfenstein schaute zum See hinüber. Es war sehr still und das hohe Schilf bewegte sich kaum. Die unheimliche Stille zwischen zwei Stürmen. Alles so still und bewegungslos. So still, wie es auf Dauer nicht auszuhalten wäre.
Sie schaute nach dem frühen Wanderer aus, der jeden Tag kam, um den großen Reiher zu beobachten und dabei so bewegungslos verharrte wie der Vogel selbst. Aber da war nichts, kein Reiher und kein Wanderer, als ob sich alle vor dem kommenden Winter bereits auf die Socken gemacht hätten. Hatte sie sich etwa im Datum geirrt? Nein, das konnte nicht sein. Das würde ihr nie passieren.
Als sie die Tür zu ihrem Bretterhäuschen mit einem Ruck, ohne diesen Ruck ging nichts, öffnete, war ihr, als ob ihr etwas entgangen war. Irgendetwas. Sie hielt den Atem an, schaute sich um und horchte eine Weile. Doch da war nichts. Es musste die Tür sein, die rostigen Angeln.
Plötzlich hörte sie Schritte, die hastig näher kamen. Also doch, da war etwas gewesen. Sie riss den Fensterladen auf und streckte neugierig den Kopf hinaus.
So schnell ging hier selten jemand. Neugierig trat sie aus dem Bretterhäuschen. Im gleichen Augenblick sah sie den frühen Wanderer heraneilen, der Feldstecher schlug ihm bei jedem Schritt hart an die Brust. Als er vor ihr stand, pfiffen seine Lungen, Schweißperlen glänzten auf seiner geröteten Stirn. Ausgerechnet der. Einer von denen, die immer ganz stur vorbeigingen, ohne sie zu grüßen.
»Da, da – draußen. Im Schilf. Eine –« Er griff sich an die Brust und rang mühsam nach Luft. »Eine Leiche im Wasser – und bewegt sich nicht.«
»Haben Sie etwa schon eine Leiche gesehen, die sich bewegt?«, schrie Elsi Klopfenstein
Weitere Kostenlose Bücher