Matrjoschka-Jagd
den erschrockenen Mann an.
Elsi wartete nicht auf seine Antwort, sie drehte sich wie ein Kreisel um und verschwand im Innern des Häuschens. Kurz darauf drang ihre raue Stimme durch das offene Fenster.
»Hier ist Elsi Klopfenstein. Ist dort die Polizei?«
Der Wanderer ließ sich auf die Türschwelle fallen, öffnete sein Hemd und wischte sich mit einem großen Taschentuch über das Gesicht. Er atmete auf, als er das Wort ›Polizei‹ hörte.
»Da liegt jemand im Wasser, beim Steg. Eine Leiche«, schrie sie in den Apparat.
Dann schoss Elsi Klopfenstein an ihm vorbei auf den Weg. Sie schaute auf den See hinaus, der im bleichen Morgenlicht schimmerte. Die Stockenten zogen ihre Kreise, sonst sah sie nichts.
»Wo liegt die Leiche?«, fragte sie barsch.
»Beim Steg«, stieß er, immer noch heftig keuchend, hervor.
Elsi Klopfenstein schaute ihn unfreundlich an. Dieser Kerl war schließlich auch noch nie bei ihr eingekehrt. Kein Mensch, der ihre Freundlichkeit verdiente.
»Ich brauche ein Schnäpschen«, bat er keuchend. »Ich habe noch nicht einmal Kaffee gehabt, ich mache meine erste Runde immer vor dem Frühstück. Aber jetzt brauche ich etwas, ich bitte Sie.«
Elsi Klopfenstein übersah seinen Hundeblick. »Zuerst zeigen Sie mir, wo die Leiche liegt. Bisher haben Sie meinen Schnaps auch nie gebraucht und stehen Sie endlich auf, damit ich die Türe schließen kann.«
Als der Wanderer schwer atmend wieder auf die Beine gekommen war, zog sie die Türe mit einem heftigen Ruck zu, schloss sie ab und stapfte los. Vergessen waren Kälte und Schmerzen. Die Neugier war ihre beste Medizin.
»So warten Sie doch, ich kann nicht so schnell«, rief der erschöpfte Wanderer und eilte hinter ihr her.
Kurze Zeit später trat Elsi Klopfenstein auf den Steg hinaus, beugte sich über die dunkle Holzbrüstung und schaute forschend ins Wasser hinunter. Ihr Herz pochte heftig, als sie das Wanderkostüm von Frau Ehrsam sah, den dicken grauen Wollstoff, den sie seit Jahren trug, im Frühling und im Herbst, um den Hals hatte sie ein Halstuch aus Kaschmir geschlungen, ›ein Weihnachtsgeschenk meiner jüngsten Enkelin‹, das hatte sie ihr neulich erzählt.
Elsi Klopfenstein schüttelte den Kopf. Sie dachte an die Armbanduhr, die zweifellos ein Vermögen gekostet haben musste. Das lag nun im Wasser, diese teuren Sachen. Frau Ehrsam würde nie mehr bei ihr einkehren. Nie mehr Zwetschgenkuchen. Doch genau bedacht, war Frau Ehrsam nicht mehr als dreimal pro Woche bei ihr eingekehrt.
Zum Glück hatte sie nicht noch extra Schlagrahm eingekauft. Der wäre endgültig für die Katz gewesen.
Aber dass Frau Ehrsam da unten lag. Solche Sachen gab’s doch nur im Fernsehen, wenn man wollte, siebenmal am Tag, aber hier draußen, so nah bei ihrer Bude … Deshalb war es heute so unheimlich still gewesen hier draußen.
So still, dass es kaum auszuhalten war, auch wenn man Stille gewohnt war. Aber eben, sie war gute Stille gewohnt, nicht diese tödliche. Elsi Klopfenstein hätte schwören mögen, dass dieser Morgen ganz anders gewesen war als alle andern Morgen ihres Lebens. Sie hatte den Tod gespürt. Ihr schauderte.
Sie riss sich von diesem traurigen Anblick los. Nun brauchte auch sie sehr dringend ein Schnäpschen.
Sie ging auf den Wanderer zu, der auf dem Weg stehen geblieben war, auf seinem Gesicht stand immer noch das blanke Entsetzen. Er tat ihr auf einmal leid. »Kommen Sie, aber denken Sie ja nicht, dass der Schnaps bei mir gratis ist. Es ist der beste weit und breit. Das werden Sie gleich merken, aber er hat seinen Preis.«
Mit weit ausholenden Schritten machte sie sich auf den Weg zurück. Der Schmerz war vergessen, denn heute würden nicht wenige an ihrem Häuschen vorbeigehen und sich etwas genehmigen. Schreck und Freude trieben die Leute zum Essen und Trinken. Das war ein Naturgesetz. Vielleicht hätte sie doch Zwetschgenkuchen bestellen sollen und frischen Schlagrahm einkaufen, aber heute würden die meisten mit einem Schnäpschen darauf anstoßen wollen, dass sie noch am Leben waren.
Elsi Klopfenstein kannte die Menschen und Schnäpschen hatte sie immer auf Vorrat.
Elsi Klopfenstein setzte sich wieder aufrecht hin und schaute die Kommissarin an. In ihren Augen lag aufrichtiges Bedauern. »Ich glaube es immer noch nicht. Da lag sie mit ihrem schönen Halstuch, das sie von ihrer Enkelin erhalten hatte. Hoffentlich musste sie nicht lange leiden.«
»Ist dieser Wanderer, der sie entdeckt hat, seither wieder hier
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