Matrjoschka-Jagd
gestorben ist? Aber kommen Sie doch herein, Frau Brand. Sie trinken sicher eine Tasse Tee.«
Mit kleinen Schritten trippelte sie in die Küche und hielt sich dabei links und rechts an den Möbeln fest, um den Weg sicher zu finden und dabei das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Auf einer elektrischen Kochplatte stand ein ausgebeultes Pfännchen.
Nore Brand bewegte sich vorsichtig durch die kleinen Räume, sie fühlte sich wie der Riese im Puppenheim. Sie schaute Fräulein von Wyberg zu, wie sie die Teedosen eine nach der andern hervorholte und öffnete, um am Inhalt zu schnüffeln.
»Da, das ist der Richtige«, sagte sie plötzlich entschlossen und warf den Beutel in eine bauchige Tasse. »Trinken Sie den Tee mit Zucker und Milch?«
»Ja, gern beides.«
Fräulein von Wyberg gab einen zufriedenen Laut von sich. »Die Lehrerin, die mir die Einkäufe macht, trinkt ihn einfach schwarz.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Die Linie, Sie wissen doch, die jungen Frauen können nicht schlank genug sein heutzutage.«
Sie blieb vor der Kochplatte stehen und schaute geduldig in das Pfännchen. Sie hatte Zeit. Reden konnte man nachher.
Ein Besuch bei einer alten Dame in der Stadt Bern hatte sozusagen eine doppelte Entschleunigung der Zeit zur Folge.
Als das Wasser kochte, bat sie Nore Brand, das Wasser in die Tasse zu gießen. »Lassen Sie es so lange ziehen, wie es Ihnen gefällt. Der Zucker steht hier«, sie wies auf den runden Holztisch, der beim Fenster stand. Das einzige Fenster war hoch und schmal; es zeigte auf eine dunkelgraue Hausmauer, die so nahe stand, dass kaum Licht in die Küche fiel.
»Für mich gibt’s ein Gläschen Portwein, das tut meinen Gliedern gut, und meinem Blut«, fügte sie an und verschwand durch eine Türe, die sie weit offen stehen ließ. Es war die wortlose Einladung, ihr zu folgen, sobald der Tee bereit war.
Nore Brand fischte den Beutel aus dem heißen Wasser und legte ihn in den gelben Spülstein.
»Kommen Sie zu mir, in den Salon, bitte«, rief die alte Dame.
Ein Kamin mit einer auffälligen rotbraunen Umrandung dominierte die rechte Wand des Wohnzimmers. Fräulein von Wyberg kauerte ganz vorne auf der Sitzfläche eines alten Lehnstuhls, dessen Stoffüberzug seine ursprüngliche Farbe vergessen hatte. Sie füllte vorsichtig ihr Gläschen, schraubte die Flasche aufatmend wieder zu, stellte sie unter den kleinen Salontisch und schob sich auf dem Sessel so weit nach hinten, bis sie die Rückenlehne spürte, dann seufzte sie tief befriedigt auf.
»Setzen Sie sich doch, Frau Brand«, sagte sie mit einer einladenden Geste.
Dem Lehnstuhl gegenüber stand ein zierliches Kanapee.
»Keine Angst, dieses Möbel bricht nicht auseinander. Letzthin saß ein dicker Herr von der Steuerbehörde drauf. Leider ist nichts passiert, leider.« Sie lachte schelmisch. »Das ist Qualitätsware. Traditionelles Handwerk. Ein Familienerbstück.«
Nore Brand setzte sich trotzdem vorsichtig hin.
»Sie kommen wegen meiner Schwester Klara«, sagte Fräulein von Wyberg, nachdem sie an ihrem Glas genippt hatte. »Dort, rechts vom Kamin, das ist das beste Bild von uns beiden. Da waren wir beim Bärengraben. Jeden Sonntag spazierten wir dorthin. Beim schlimmsten Regen und bei der ärgsten Kälte. Mein Vater wollte das so. Das war sein einziges Ritual, aber daran hielt er fest. Er liebte die Bären abgöttisch. Sonntag für Sonntag musste man ihnen die Ehre erweisen.«
Immer standen sie in Reih’ und Glied, diszipliniert, auch beim sonntäglichen Ausflug. Fräulein von Wyberg war auf dem Bild leicht zu erkennen, ihr Gesicht lächelte, ohne jedoch ihre Zähne zu entblößen, sie trug ein weißes Sommerkleid, in der rechten Hand hielt sie den Sonnenschirm und den linken Arm hatte sie um ihre Schwester gelegt. Das war also Klara Ehrsam als Heranwachsende, das Gesicht umschattet von unbekannten Jugendsorgen.
Nore Brand setzte sich wieder hin. »Fräulein von Wyberg«, begann sie, »es ist mir sehr unangenehm, Ihnen das sagen zu müssen, aber wir vermuten, dass Ihre Schwester nicht einfach verunglückt ist.«
»Was sagen Sie da?«
»Jemand …«, begann Nore Brand.
»Wurde Sie etwa …? Nein, das kann nicht sein! Wer glaubt denn so etwas?« Fräulein von Wyberg senkte ihren Kopf und blieb eine Weile reglos sitzen.
Dann richtete sie sich wieder auf und blickte Nore Brand ins Gesicht. »Es muss für Sie schrecklich sein, mir solche Nachrichten zu bringen, nicht wahr?«
Nore Brand nickte überrascht.
Die Frau
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