Matrjoschka-Jagd
seufzte. »Es tut mir so leid, dass Klara Ihnen das Leben schwer macht. Aber was kann ich Ihnen schon erzählen? Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Wir haben uns leider stark auseinandergelebt. Das hätte ich nicht zulassen dürfen. Ich war schließlich die Ältere und das bleibt man ein Leben lang.« Sie hob den Blick zum Fenster.
»Wissen Sie etwas von der Uhr, die sie immer trug?«
Fräulein von Wyberg lächelte wieder. »Aber ja. Diese Bernstein-Uhr meinen Sie. Die hat eine lange Geschichte. Sie wurde von einem Uhrenmacher in St. Petersburg hergestellt, das heißt heute ja Leningrad, nicht wahr. Oder nein, ich irre mich. Das ist ja wieder St. Petersburg. Dieses Hin und Her mit den Namen. Aber eben, dieser Uhrenmacher, der das Zifferblatt aus Bernstein fabriziert hat, behauptete, dass es sich um ein winziges Teilchen des Bernsteinzimmers handelte. Stellen Sie sich vor, er hat das gestohlen. Während der Kriegswirren. Und er brüstete sich noch damit. Sie kennen die Geschichte doch, oder? Dieser Uhrenmacher wollte nach Südamerika auswandern, aber das Schiff ging unter und er kam nie dort an. Klara liebte diese Geschichte. Deshalb trug sie diese Uhr und erzählte jedem davon, der mit ihr ins Gespräch kam, und ich fürchte, dass nicht wenige sich diese Geschichte immer und immer wieder anhören mussten.«
»Die Uhr war also sehr wertvoll.«
»Diese Geschichte machte sie wohl äußerst wertvoll. Für Klara ganz sicher. Dieses Bernsteinzimmer muss wunderbar gewesen sein. Ich habe Bilder gesehen. Unbeschreiblich schön. Dieser unselige Krieg. An so vielem ist er schuld. Denken Sie auch, dass es abgebrannt ist? Dieses Kunstwerk war die große Leidenschaft meiner Schwester. Sie hatte viele Bildbände und kannte diese ganze Geschichte in- und auswendig. Oh, sie liebte die russische Literatur und die Geschichte. Sogar dieses ganze Theater mit der Zarenfamilie. Dabei war sie doch eine richtige Kommunistin.«
Fräulein von Wyberg kam in Fahrt; ihre Wangen röteten sich vor Eifer.
»Doch das spielte für sie keine Rolle. Und sie war zutiefst davon überzeugt, dass dieses Bernsteinzimmer irgendwo unter Kriegsruinen vergraben liegt. Sie glaubte daran. Sie hat fortwährend Nachforschungen angestellt. Wie so viele andere. Klara hatte Freunde in Russland, das müssen Sie wissen. Sehr viele Freunde. Aber warum fragen Sie eigentlich nach dieser Uhr?«
»Vielleicht hat sie etwas zu bedeuten. Ich bin mir nicht sicher, denn sie war vorübergehend verschwunden.«
»Ach so. Aber es ist doch einfach eine Uhr, ein Ding.« Fräulein von Wyberg schaute Nore Brand in die Augen. »Als man mir von ihrem Tod berichtete, habe ich nicht geweint. Ich werde ja doch bald dort sein, wo sie ist.« Sie machte eine Pause. »Und jetzt sagen Sie mir, dass es möglicherweise kein Unfall war.« Sie zog ein gehäkeltes Taschentüchlein hervor und wischte sich vorsichtig den Mund ab.
»Hat sich Ihre Schwester denn in irgendeiner Weise verändert?«
»Mein Neffe hat sich Sorgen gemacht um sie, vor allem in letzter Zeit. Sie werde so religiös oder nein«, verbesserte sie sich, »so philosophisch. Ich glaube, ›philosophisch‹ hat er gesagt oder ›idealistisch‹. Ich kann mich nicht genau erinnern.«
»War das ein Problem für ihn?«
Fräulein von Wyberg lächelte. »Eigentlich nicht, aber meine Schwester war eine außerordentlich reiche Frau. Eine Multimillionärin, so stand es einmal in der Zeitung. Klara, eine Multimillionärin. Ich konnte das fast nicht glauben. Wir waren nie arm, verstehen Sie, es hat immer für das Notwendige gereicht und für ein bisschen mehr sogar. Auch während der Kriegsjahre.«
Dann kicherte sie wie eine, die ihrem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hat. »Mir ging’s auch gut. Ich habe dieses Haus kaufen können, weil es keiner wollte. Das war nicht lange nach dem Krieg. Entschuldigen Sie, aber ich schweife ab. Es geht ja um Klara und nicht um mich. Jetzt habe ich tatsächlich den Faden verloren. Wo sind wir stehen geblieben?«
»Klara sei philosophisch geworden, sagten Sie, oder idealistisch.«
»Ach ja, das.« Fräulein von Wyberg legte den Kopf zurück und dachte nach. »Ja, genau, das war’s. Also, wie gesagt, mein Neffe machte sich große Sorgen um sie. Eines Tages hätte sie angefangen, sich über den Reichtum der Familie lustig zu machen. Geld verderbe die Menschen, sagte sie ihm, nichts sei langweiliger als viel Geld zu besitzen. Man könne so viele sinnvolle Dinge tun für die ganze
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