Matrjoschka-Jagd
und ab. Laute Zurufe und übermütiges Gelächter wirbelten durcheinander. Die Lehrerin ging vorab, unablässig mahnende Blicke zurückwerfend.
Ohne den geringsten Erfolg natürlich.
Was war mit Jeremias Matthäus Simmer?
Fräulein von Wyberg hatte ihn vor sehr langer Zeit zum letzten Mal gesehen, aber die Beschreibung schien zu passen.
Eines Tages sei dieser einfach auf und davon, habe Jahre lang nichts von sich hören lassen, jede Nachforschung der Familie habe nichts ergeben. Einmal sei die Nachricht von seinem Tod aus Südamerika eingetroffen.
Leider habe Isidor gegen Ende seines Lebens auch noch ›seelische Probleme‹ gehabt, so hatte die alte Dame es in Worte gefasst. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann Isidor vom Tod von Jeremias erfahren hatte. Wenn es ihr noch einfallen sollte, würde sie sich bei ihr melden. Nore Brand schrieb ihre Handynummer in großen Zahlen auf ein Stück Papier und legte sie auf die Kommode. Die Frau war plötzlich sehr aufgeregt.
»Vielleicht hat sich Isidor ja geirrt, nicht wahr? Oder vielleicht hat man sich in Südamerika geirrt?«, hatte sie hoffnungsvoll gefragt. »Was man so hört, geht dort unten immer wieder alles drunter und drüber. Sagen Sie Jeremias doch, es würde mich freuen, ihn wiederzusehen. Es ist so lange her. Er muss denken, dass es mich nicht mehr gibt, sonst wäre er doch längst bei mir vorbeigekommen. Sagen Sie ihm, dass ich noch lebe und dass ich mich über seinen Besuch freuen würde.« Sie ergriff Nores rechte Hand und drückte sie bettelnd an sich, wie ein kleines Kind.
»Wann sehen Sie ihn wieder?«
»Vielleicht heute. Das hoffe ich jedenfalls sehr.«
»Sagen Sie ihm, dass ich auf ihn warte. Ich würde mich über einen Besuch so sehr freuen. Tun Sie das für mich, ja?«
Das kindliche Strahlen auf dem alten Gesicht versetzte Nore Brand einen Stich. Die Einsamkeit in diesem Wohnturm hatte Fräulein von Wyberg mit keiner Silbe erwähnt.
Nore Brand eilte die Kramgasse hinauf. Beim Zytglogge überquerte sie die Straße, nachdem ein Tram quietschend um die Kurve gefahren war, in Richtung Bärenplatz. Bei Adriano’s setzte sie sich auf den ersten freien Barhocker, holte ihr Handy hervor und tippte eine Nummer ein.
Sie horchte ungeduldig.
Nino hatte diesem Ding wieder Leben eingehaucht. Er war ein moderner Zauberer.
Die Combox meldete sich. Nino, der Surfer wollte nicht gestört werden.
Ein geduldiges Bändchen in der Ferne zeichnete ihre ungeduldigen Worte auf.
Dann bestellte sie einen doppelten Espresso. Sie holte mehr Zucker von der Bar. Als sie die Tasse mit Zucker auffüllte, fiel ihr Maria Volta ein. Sie hatte sich vor Urzeiten regelmäßig mit ihr getroffen, morgens vor der Arbeit, damals, als diese Bar noch neu war. Maria Volta konnte möglicherweise weiterhelfen.
Es war ruhig in der Bar. Nore Brand warf einen Blick auf ihre Uhr. Das würde sich gleich schlagartig ändern. Rasch bezahlte sie und ging.
Sie eilte über die Kirchenfeldbrücke. Ihr oranger Volvo stand auf dem Helvetiaplatz. Sie würde keinen Strafzettel unter dem Scheibenwischer vorfinden. Man hatte offenbar ein Herz für den Besitzer. Wer eine solche Schrottmühle fuhr, durfte nicht zusätzlich bestraft werden.
NINO ZOPPA LEGT LOS
Zwei Stunden später eilte Nore Brand durch die Gaststube. Nino Zoppa saß zuhinterst im Raum an einem Tisch und blätterte in Dokumenten. Als sie ihn begrüßte, fuhr er zusammen.
»Du bist schon da?«
»Uns bleibt nicht so viel Zeit. Hast du etwas herausgefunden?«
Nino Zoppa deutete auf die Dokumente, die vor ihm ausgebreitet lagen. »Surfen ist fast noch besser als flippern. Für dich habe ich alles ausgedruckt.«
Er durchwühlte seinen Papierberg, bis ihm ein Zettel entgegenflatterte. »Hier, das ist die Adresse von Anwalt Merian. Den musst du treffen. Er will dich morgen früh um Punkt zehn Uhr sprechen. Punkt zehn Uhr, hat er wiederholt. Ich habe ihm erklärt, dass du pünktlich bist.«
Er zwinkerte ihr zu. »Für dich ist Pünktlichkeit ja kein Problem.«
Sie nahm den Zettel kommentarlos entgegen und steckte ihn in die Tasche.
Nino Zoppa pfiff leise durch die Zähne. »So wie der tönt, steht der nicht mehr früh auf oder er schläft überhaupt in seinem Bürosessel. Der Kerl pfeift vor lauter Alter aus dem letzten Loch. Übrigens hat der Chef wieder angerufen.«
»Und?«
»Der hat getobt, weil du dich wieder nicht gemeldet hast.«
»Kontrollzwang und Filzprobleme.«
»Ich habe ihm einfach gesagt, ich hätte es
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