Matrjoschka-Jagd
erklärte er seiner Schwester.
»Für einen Austausch von Freundlichkeiten hat es aber lange gedauert«, argwöhnte Elvira.
Der Anwalt überging die Bemerkung seiner Schwester. Er wandte sich an Nore Brand. »Es war eine schöne Begegnung. Einfach so mühelos über die Kantonsgrenze hinweg. Vielleicht steckt uns Europa doch noch an. Wir wollen die Hoffnung nie aufgeben, nicht wahr?« Er griff nach ihrer Hand und blinzelte ihr schelmisch zu.
»Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, versicherte Nore Brand mit Nachdruck. Sie wollte gehen.
»Ganz meinerseits, ganz meinerseits«, gluckste er und hielt lange und fest ihre Hand. Auf einmal zog er sie zu sich hin. »Da war noch etwas. Sagen Sie, was ist mit dieser Tänzerin aus Moskau eigentlich los?«
Nore Brand versuchte sich aus seinem Griff zu lösen.
»Stania Matiowa soll sie heißen. Sie sammelt Geld für ein Waisenhaus in Moskau.«
»Klara Ehrsam schrieb im Brief, mit dieser Russin stimme etwas nicht. Da stinke etwas ganz fürchterlich im Staate Dänemark. Eine Russin, die nicht russisch kann.«
»Heinrich«, rief Elvira, »du gehst zu weit!«
Doch Heinrich Merian ignorierte seine Schwester.
»Warum wusste Frau Ehrsam …?«
Endlich lockerte sich sein Griff. »Diese Begünstigte, diese Medizinstudentin aus Kroatien, habe einmal eine Bemerkung gemacht. Diese Ballerina aus Moskau sei eine lausige Schauspielerin. Eine Russin, die nicht russisch kann, und wer seine Beine kaputt getanzt habe, bewege sich anders. Das steht im Brief. Klara wollte diese Frau natürlich zur Rede stellen und anschließend den Direktor aufklären. Aus solchem Holz war unsere Klara geschnitzt. Aber vielleicht kam sie gar nicht mehr dazu, die Ärmste.«
Höchstwahrscheinlich schon, dachte Nore Brand. Das hätte sie lassen sollen.
Elvira zupfte ungeduldig an seinem Ärmel. »Heinrich, schweig. Hier ist dein Frühstück.«
Er schüttelte sie ab und bedachte sie mit einem unfreundlichen Blick. Dann wandte er sich wieder an Nore Brand. »Diese Russin soll seine neue Favoritin sein. Denken Sie bitte nicht schlecht über unsere Freundin Ehrsam. Das wird ihr bestimmt nicht gefallen haben, dass da wieder eine andere war. Sie war auch nur ein Mensch. Da hat sich der Direktor also doch noch auf jüngere Frauen verlegt. Das soll ja vorkommen. Unsereiner kennt sich auch etwas aus im Leben.«
»Heinrich, jetzt ist es genug!«, rief Elvira und schob ihren Bruder an den Tisch, wo sie sein Frühstück bereitgestellt hatte. Der Kaffee roch hervorragend.
Als Nore Brand draußen im Flur stand und die Jacke zuknöpfte, setzte der aufgeregte Wortwechsel im Büro des Anwalts wieder ein. Nore Brand zögerte einen Augenblick, doch dann legte sie rasch ihr Ohr an die Tür. Die effizientesten Methoden waren in der Regel sehr einfach in der Handhabung. Sie brauchte keine Technik, Batterien und Akkus dafür. Nur die kleine Portion Unbeschwertheit, um sie anzuwenden.
»Unsinn. Ich glaube dir kein Wort«, hörte sie Elvira mit schneidender Stimme widersprechen, »du hast ihr zu viel erzählt und das nur, weil sie dir gefällt. Da muss nur eine mit einem tollen Busen kommen und schon zwitscherst du wie ein Kanarienvogel. Klara Ehrsam dreht sich ja im Grabe um.«
»Ich habe nur das gesagt, was gesagt werden darf. Sie wusste bereits fast alles. Die Polizei steckt ihre Nase früher oder später doch überall hinein«, wehrte sich Anwalt Merian. »Und überhaupt, bald wissen es sowieso alle.«
»Dass mit dieser Russin etwas nicht stimmt, wusste ich längst. Und du Trottel hättest fast das ganze Geld auf ihr Konto überwiesen. Für arme Waisenkinder.« Elvira lachte höhnisch. »Du lieber Himmel. Männer können doch solche Esel sein. Vor allem, wenn es um Frauen geht.«
»Ach ja, diese hübsche Summe. Das habe ich glücklicherweise vergessen«, rief Anwalt Merian, »und Klara hatte so ein Durcheinander in ihrem Fadenkörbchen, dass sie auch das nicht mehr merkte. Klara wusste ja nie, wie viel sie besaß. Das interessierte sie gar nie. Aber geändert wird nichts mehr. Punktum. Das Testament ist vernünftig, Klara ist tot, die Heilsarmee wird sich freuen und die Frau aus Kroatien wird wohl eine Familie haben, die sich mit dem Geld etwas trösten kann. Aber, das ganz große Geheimnis, das wird keiner von mir erfahren. Nie und nimmer.«
»Was hast du denn noch für ein Geheimnis?«, fragte Elvira verärgert. »Ach was, jetzt mach aber einen Punkt. Trink deinen Kaffee, bevor er kalt ist. Dein
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