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Matterhorn

Matterhorn

Titel: Matterhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Marlantes
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jedoch mit anderen Leuten vorneweg. Bald verteilte sich der Zug in einzelnen Abschnitten über die gesamte Wand. Für den Fall, dass sich oben NVA -Truppen befanden, hielt Fitch den Rest der Kompanie im Dschungel versteckt. Mellas wusste, dass das die richtige Vorgehensweise war, bedauerte nun aber, dass seine Fähigkeiten im Kartenlesen dafür gesorgt hatten, dass der Erste Zug so oft an der Spitze marschiert war. Das Gesicht gegen die nasse Felswand gedrückt, atmete er die Gerüche von Moos und Erde ein. Eine einzige NVA -Gruppe oben auf dem Hügel könnte den halben Zug töten, ehe die Jungs sich nach unten in Sicherheit bringen konnten. Ein einziges NVA -Maschinengewehr auf der gegenüberliegenden Canyonseite könnte sie vermutlich alle erwischen. Sie waren am Arsch.
    Fünf Stunden später kletterten sie, von Nebel umhüllt, immer noch. Robertson und Jermain aus der Zweiten Gruppe hatten jetzt die Spitze, dicht gefolgt von Jacobs, der Anfeuerndes stotterte. Jermain hatte den gedrungenen M 79 mit Stahlnadelgeschossen geladen, um wenigstens jeden, der zu ihnen herabschaute, unter Beschuss nehmen und die Waffe einhändig abfeuern zu können, ohne zielen zu müssen. Robertson hätte als Truppführer jemand anderem befehlen können, die Spitze zu übernehmen, hatte es aber nicht über sich gebracht. Von seinem Trupp war er inzwischen durch Jacobs getrennt, der von sich aus näher an die Spitze herangerückt war und seine normalerweise sicherere Position hinter dem ersten Trupp aufgegeben hatte. Robertson fragte sich, ob er sein M 16 gesichert oder entsichert lassen sollte. Falls es entsichert war und er Mist baute, würde er höchstwahrscheinlich Jermain umbringen, der garantiert abstürzen und, weil er an Robertson angeseilt war, diesen mitreißen würde. Falls andererseits der Feind über die Kante spähte und er, Robertson, der wiederum nur eine Hand frei haben würde, nicht sofort einen Feuerstoß abgab, dann wäre das genauso, als hätte er das verdammte Ding unten weggeschmissen. Er löste das Dilemma, indem er alle ein, zwei Minuten nervös entsicherte und sicherte.
    Die steile Felswand hinaufzuklettern machte Stille unmöglich. Falls oben NVA -Truppen warteten, dachte Robertson, würde man mit Sicherheit sie beide – und wahrscheinlich die ganze Gruppe einschließlich des Lieutenants und Hamiltons – abschreiben müssen, um die Kompanie zu retten. Doch verglichen mit dem ständigen erschöpfenden Ankämpfen gegen Schwerkraft und Hunger und der unnachgiebigen Felswand, die der Dschungel ihnen nun präsentierte, erschien ihm der Tod gar nicht so schlimm.
    Er sah, dass Lieutenant Mellas ein Flachstück unterhalb von ihm erreicht hatte und zu ihm aufblickte. Robertson hievte sich und sein schweres Marschgepäck über eine größere Felsformation. Schwer atmend hielt er in unsicherer Hockstellung neben Jermain inne, der mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden saß, nach oben schaute und seinen M 79 über den Kopf hielt. Das bisschen Platz war eindeutig nur für einen von ihnen sicher. Es gab offenbar keine Stelle, zu der er sich weiterbewegen konnte. Sein Gesicht war gerötet und fühlte sich heiß und geschwollen an. Er wusste, dass er weinte, weil er sich ständig Tränen wegwischen musste, um nach seinem nächsten Griff zu suchen.
    Der Lieutenant hob den Daumen und nickte ermutigend. Weiß der Himmel, wie’s den Typen hinter uns mit den Maschinengewehren und den Mörsern geht, dachte Robertson. Oder dem armen Schwein mit dem gebrochenen Bein und denen, die ihn tragen. Er drehte sich um und schaute nach oben in den Nebel. Über ihm ragte die Wand auf, unbeweglich, unmöglich steil, ihr unsichtbarer Gipfel scheinbar außer Reichweite. Langsam, mit jedem Atemzug, nahm seine Wut zu: auf die Felswand, die Verarschung, den Hunger, den Krieg – auf alles. Er brach in hektische Betriebsamkeit aus. Mit wild gegen den Fels arbeitenden Beinen und einem Stöhnen, das ein halb unterdrückter Wutschrei war, kletterte er ohne jedes Hilfsmittel weiter. Dabei stieß er Jermain beinahe hinunter, und dieser holte mit dem M 79 nach ihm aus, machte sich dann aber wohl klar, dass er Robertson sicherte, und schlug nicht zu. Er ließ Seil nach, damit Robertson nicht plötzlich abgebremst wurde und herunterfiel. Nur wenige Meter oberhalb von Jermain erreichte Robertson eine sichere Stelle und entschuldigte sich. Beide weinten unverhohlen, wie kleine Kinder, die gefüttert und ins Bett gebracht werden müssen.
    Kurz vor Einbruch

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