Matto regiert
verstehen, das heißt, die Brücke zwischen ihm und mir war zerbrochen, nicht nur zwischen ihm und mir, zwischen der ganzen Wirklichkeitswelt und ihm. Was statt dieser Welt da war, kann ich heute nur erraten. Es waren Särge da, es war sein Kind da, es war der Bezirksanwalt da – und Pieterlen sagte, es röche nach Brillantine – es tauchten Sätze aus Büchern auf… Aber das alles existierte nicht wie eine Erinnerung, zu der wir Abstand zu wahren wissen, nein, diese Vergangenheit war jede Minute leibhaftig da, sie sprach zu ihm, sie lebte: Dann war ein Pfleger der Bezirksanwalt, und der Pieterlen tobte, dann war ein Patient seine Frau und der Pieterlen streichelte den Patienten… Dann war manchmal der Teufel da, und der Teufel ähnelte dem Goetheschen Mephistopheles, es war ein literarischer Teufel, und Pieterlen wehrte sich gegen die Sätze des Teufels, und manchmal lauschte er ihnen verzückt, und dann sah er aus, wie ein Säulenheiliger in Ekstase… Das war Unordnung, das war Krankheit… Ich bin Arzt. Ich dachte nicht daran, was mit dem Pieterlen geschehen würde, wenn ich ihn gesund machen konnte. Ich dachte nur, das will ich mit aller nötigen Demut gestehen, ich dachte nur als Arzt daran, den Pieterlen aus seinem Reich herauszuholen, die Stimmen, die ihn plagten, zum Schweigen zu bringen…
Eine sogenannte Schlafkur schien mir indiziert, obwohl verschiedene Überlegungen dagegen sprachen; aber ich versuchte es doch. Ich fütterte den Patienten Pieterlen mit Schlafmitteln und versenkte ihn in eine zehntägige Dauernarkose. Zweck: Abstoppen des Ablaufs der Bilder, der Stimmen. Die Bilder mußten im Schlafe ersäuft werden. Ich spreche ganz einfach zu Ihnen; Kollegen, die mich hören würden, hätten ihren Spaß an mir. Der einzige, der nicht grinsen würde, wäre vielleicht mein alter Chef. Er sah aus wie ein greisenhafter Gnom mit einem Rübezahlbart, und seine Arme waren so lang, daß seine Hände, wenn er gebückt daher lief, an die Kniee schlugen.
Während der Dauernarkose (Jutzeler hat mir dabei geholfen, wissen Sie, der Abteiliger vom B, die andern wären ja dazu unfähig gewesen, es herrschte damals in unserer Anstalt ein Chaos, wie vor der Trennung von Erde und Wasser) magerte mir mein Pieterlen ab. Das war vorauszusehen. Als er nach zehntägigem Schlaf erwachte, spuckte er dem Jutzeler ins Gesicht, und mich biß er in die Hand. Nicht stark. Er war zu schwach… Der Jutzeler mußte sich den ganzen Tag um ihn kümmern, immer um ihn sein, mit ihm spielen, mit ihm spazierengehen, ihn zum Zeichnen anhalten… Aufs Zeichnen hoffte ich… So eine Seele, die aus dem fremden Reich kommt, die aus dem Teiche auftaucht, sie sieht aus wie ein mißratenes Entlein. Schwimmstunden möchte man ihr geben…
Fiasko, um es kurz zu sagen. Ich fütterte ihn auf. Da verweigerte der gute Pieterlen das Essen. Sondenernährung, langweilig! Ich glaubte, er werde mir unter der Hand kaputt gehen.«
Ein Seufzer. Ein Streichholz flammte auf. Laduner nahm einen langen Zug aus der Zigarette.
»Dann plötzlich begann er zu fressen wie ein Scheunendrescher, wurde dicker, hörte auf zu husten. In zehn Tagen nahm er acht Kilo zu. Sonst war seine Lieblingsbeschäftigung das Zertrümmern von Fenstern. Vielleicht dachte er in seiner Verstörtheit, er könne die gläserne Wand zerbrechen, die zwischen ihm und den Dingen und Menschen stand… Und die Stimmen plagten ihn weiter. Er hatte ein ganzes Repertoire von ausgefallenen, unanständigen Schimpfnamen, und sie galten alle dem Bezirksanwalt, und ich hatte die Ehre, diesen zu verkörpern.
Nach drei Wochen versuchte ich die zweite Schlafkur, denn Pieterlen glänzte feist, und die Rechnung für zerbrochene Fensterscheiben stieg trotz allen Vorsichtsmaßregeln. Der Schreiner, der hier die Scheiben einsetzt, arbeitete nur noch fürs B. Ich wollte den Pieterlen nicht ins Bad stecken, ich war eigentlich ganz zufrieden, daß er wenigstens Fensterscheiben zertrümmerte. Er tat immerhin etwas, wenn er auch nur zerstörte. Wie wollen Sie aufbauen, Studer, wenn Sie nicht zuerst zerstören? Fensterscheiben oder andere Hindernisse?
Und die Kur hatte Erfolg. Er erwachte, sah sich um, wie weiland Tannhäuser, als er aus dem Venusberge kam, aber es war ein wirkliches Erwachen, und er blieb wach… Nun sind es vier Jahre her…
Ich sehe, Studer, daß meine psychiatrischen Ausführungen nicht allzu einschläfernd gewirkt haben. Darum erlauben Sie mir noch eine bescheidene Zwischenfrage:
Ein
Weitere Kostenlose Bücher