Matto regiert
nicht paßten… Am vierten Tage, am Morgen (da sind die Leute besonders reizbar), zertrümmerte er ein Fenster. Ich ließ ihn aufs U versetzen, die Nacht hindurch war er so aufgeregt, daß er ins Bad mußte… Wir haben keine Zwangsjacke, das wissen Sie, was sollen wir mit einem Aufgeregten tun? Laues Wasser ist beruhigend. Zwei Pfleger hielten bei ihm Wache, und sie wußten, daß ich scharf auf blaue Flecken sah… Das ist immer das erste, auf das ich sehe, wenn ich am Morgen Visite mache und weiß, daß ein Aufgeregter die Nacht im Bad hat verbringen müssen…
Ich muß noch einmal abschweifen, Studer, so leid es mir tut, aber haben Sie sich schon einmal folgende Überlegung gemacht: Wir, oder sagen wir richtiger: ich… kann die Seelenverfassung eines Mörders im Zeitpunkt der Tat in einem Gutachten darstellen, ich kann die Motive, die Regungen, die Mechanismen bloßlegen… Gut… Ich weiß, und habe es Ihnen auch gesagt, wir alle sind Mörder, in Träumen, in Gedanken, aber die Hemmung ist da… Wir gelangen nicht bis zur Tat… Wie aber, wenn wir die Schranke überschreiten und zum Mörder werden? Wirkt die Tat auf den Mörder so stark, daß sein Weltbild mit ihr zusammenbricht? Ich spreche jetzt nicht von Mord auf Befehl…«
Wieder war die merkwürdige Betonung festzustellen, wie früher, als Laduner gelesen hatte: ›er hatte die Frau ganz in der Gewalt‹…, aber dann fuhr er rasch fort, so, als wolle er etwas verwischen:
»… wie im Krieg, wie in der Revolution. Dort trägt der Führer, wer er sei, die Verantwortung… Ich rede vom einmaligen Mord, vom Mord aus Leidenschaft; glauben Sie nicht, daß nach der Tat der Mensch anders denkt, fühlt, handelt, sieht, hört, empfindet, als vor der Tat?… Abgesehen von der Reue, die eine viel seltenere Regung ist, als man gemeinhin meint… Sie liegt auf einer anderen Ebene, auf der religiösen, meinetwegen, und heutzutage sind die religiösen Menschen ebenso selten, wie die Menschen mit Verantwortlichkeitsgefühl. Was unter dem Namen Religion umgeht, ist bestenfalls, wie ich Ihnen in Wien schon sagte, etwas Ähnliches wie Lebertran. Man sagt, es kräftige, aber es ist unangenehm zu schlucken, und es hilft nicht viel. Auf alle Fälle herrscht der Ekel vor, und der Ekel ist sicher stärker als die gesundheitsfördernde Wirkung…
Zusammenbruch des Weltbildes!… Wir sprechen vom schizophrenen Weltuntergangsgefühl. Der Berg, der sich spaltet, eine Katastrophe für die Welt des Berges… Der Mord… eine Katastrophe für die Ganzheit des Menschen… Nun nehmen wir an, in unserer psychiatrischen Wissenschaft, und alles scheint darauf hinzuweisen, daß eine Schizophrenie einen organischen Ursprung hat. Unordnung im Drüsensystem, um laienhaft zu sprechen… In ihren Anfängen ist sie nicht zu erkennen, bestenfalls nur die Anlage dazu. Wir dürfen, wie im Falle Pieterlen, nicht weitergehen, als zu sagen, es werde wahrscheinlich später eine Geisteskrankheit ausbrechen. Weiter nichts. Aber wenn wir doch so g'merkig sind, dann sollten wir doch den Herren von der Justiz begreiflich machen können, daß sie es in einem Falle wie Pieterlen nicht mit einem Verbrecher, sondern mit einem Kranken zu tun haben; daß Pieterlen sein Kind getötet hat, aus Gründen, die wir psychologisch gerade noch verstehen können, aber die doch zeigen, daß jene Hemmung, von der ich sprach, nicht mehr vorhanden war…
Gut, ich habe versucht, dies dem Herrn Bezirksanwalt begreiflich zu machen… Der Herr Bezirksanwalt war also einesteils schuld, daß uns Pieterlen in so traurigem Zustande überwiesen wurde. Der Kindsmörder Pieterlen hatte sich in ein fremdes Reich geflüchtet, in das ich ihm nicht zu folgen vermochte, denn mein Gleichnis ist nur zum Teil richtig. Bei einer Schizophrenie denkt man nicht immer an einen gespaltenen Berg, manchmal denkt man an einen Teich, der von einer Quelle in ihm selbst gespeist wird, von außen aber hat der Teich keinen Zufluß. Manchmal sieht es aus, wie eine Flucht in ein fremdes Reich, an dessen Pforten wir pochen (poetisch! nicht wahr, lieber Studer?), und manchmal sieht es auch aus, wie eine gewöhnliche Besessenheit und man denkt an die Hexenprozesse des Mittelalters und an die Teufelsaustreibungen der Franziskaner und man wünscht eine Herde Säue bei der Hand zu haben, in die man die unsauberen Geister jagen könnte. Nun, bei Pieterlen war das Bild ziemlich bunt. Steifheit der Mimik, der Bewegungen, des affektiven Rapports, wenn Sie mich
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