Matto regiert
diesen Mann, und er fand, Dr. Laduner übertreibe gar nicht… Beim schwerhörigen Fürsorgebeamten erkundigte sich Laduner nach dem Schicksal eines gewissen Schreier, der zur Begutachtung in Randlingen gewesen und dann ein Jahr in Witzwil versorgt worden war… Wie gehe es dem Manne? Halte er sich gut?… Sicher werde es dem Herrn Fürsorger gelingen, dem Mann bei der Entlassung eine gute Stelle zu verschaffen; nein, nein, die Prognose sei gar nicht ungünstig… Laduner ließ sich auch nicht durch das fortwährende: »Wie me-inet i-ihr?« aus der Ruhe bringen, er wiederholte seine Sätze dreimal, wenn es sein mußte, und inzwischen unterhielt sich Frau Laduner mit der Frau Nationalrat und schenkte Tee ein. Der Herr Pfarrer Veronal trank ihn mit viel Rum. Und Studer auch.
Der Wachtmeister war vorgestellt worden, nun hockte er in der Ecke beim Fenster, stumm, beobachtend.
Um neun Uhr verabschiedete sich die Kommission und Studer blieb sitzen. Dr. Laduner erbot sich, die Mitglieder mit dem Auto nach der Station zu bringen, und das Anerbieten wurde dankend angenommen.
Studer wartete auf die Rückkehr des Arztes in seiner Ecke. Frau Laduner fragte, warum der Herr Studer so schweigsam sei, und erhielt als Antwort ein unhöfliches Brummen. So schwieg auch sie, ging zum Fenster, wo in der Ecke, Studer gegenüber, ein glänzend polierter Kasten auf einem kleinen Tischchen stand. Sie drehte an einem Knopf… Marschmusik. Studer war es zufrieden. Marschmusik war besser als: »Irgendwo auf der Welt…«
Sie warteten beide schweigend auf Laduners Rückkehr. Als dann der Arzt ins Zimmer trat, schickte er seine Frau ins Bett, sehr freundlich und besorgt übrigens, und meinte schließlich: »Sie leisten mir noch Gesellschaft, Studer?«
Der Wachtmeister brummte etwas aus seiner Ecke, das man allenfalls als Zustimmung auffassen konnte…
Laduner schwieg zuerst. Dann sagte er:
»Schad um den Gilgen…« Er schien auf eine Antwort zu warten, aber als es in der Ecke still blieb, fuhr er fort:
»Haben Sie eigentlich darüber nachgedacht, Studer, daß sich niemand unbeschadet lange Zeit mit Irren abgeben kann? Daß der Umgang ansteckend wirkt? Ich habe mich manchmal gefragt, ob es vielleicht nicht umgekehrt ist: daß nur diejenigen als Pfleger, als Ärzte in Irrenanstalten gehen, die ohnehin schon einen Vogel haben, um volkstümlich zu reden. Mit dem Unterschied, daß die Leute, die den Drang verspüren, in Mattos Reich einzudringen, wissen, daß etwas bei ihnen nicht stimmt, unbewußt, meinetwegen, aber sie wissen es. Es ist eine Flucht… Die andern draußen haben manchmal die ausgewachseneren Vögel, aber sie wissen es nicht, nicht einmal unbewußt… Denken Sie, ich bin einmal um die Mittagszeit am Bundeshaus vorbeigegangen und habe die Angestellten herausströmen sehen. Ich bin stehengeblieben und habe mir die Leute angesehen… Es war lehrreich… Gang, Haltung. Der eine hatte den Daumen im Westenausschnitt und ging mit schlenkernden Tritten, sein Gesicht war rot und steif, und ein einfältiges Lächeln lag auf seinem Gesicht… Sieh da! sagte ich, eine beginnende Katatonie!… und versuchte auszurechnen, wann etwa der Schub fällig sein würde. – Ein anderer hatte starre Blicke, sah sich ständig um, dann blickte er wieder eine Zeitlang zu Boden und balancierte vorsichtig auf dem Trottoirrand… Neurotisch, vielleicht schizoid, dachte ich… Ein anderer trug eines jener Lächeln im Gesicht, die man als sonnig zu bezeichnen pflegt, er hatte den Kopf im Nacken, schlenkerte mit dem Stock, grüßte alle Leute… Natürlich: manische Verstimmung wie mein Bundesratsattentäter Schmocker…«
Immer noch spielte das Radio in der Ecke leise Märsche. Es war eine angenehme Begleitung zu den Ausführungen Dr. Laduners.
»Sie haben mit Schül gesprochen, hab' ich gehört? Und er hat Ihnen sein Gedicht verehrt? Sie werden mir zugeben, daß es nicht dumm ist, daß es voll Symbolgehalt ist… Manchmal hab' ich ihn beneidet um seinen Matto… Matto, der die Welt regiert! Matto, der mit roten Bällen spielt und sie wirft, und die Revolutionen flackern auf!… Und die bunte Papiergirlande flattert, und der Krieg lodert… Es hat viel für sich… Wir werden nie die Grenze ziehen können zwischen geisteskrank und normal… Wir können nur sagen, ein Mensch kann sich sozial anpassen, und je besser er sich sozial anpassen kann, je mehr er versucht, den Nebenmenschen zu verstehen, ihm zu helfen, desto normaler ist er. Darum habe ich immer
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