Mattuschkes Versuchung
lebten ausgesprochen harmonisch zusammen, fast wie ein Paar, es war zweifellos eine glückliche, reiche Zeit ihres Lebens. Aber wie naiv war sie, in ihm nur den freundlichen Gutmenschen zu sehen? Sie hatte ihm vertrauensvoll Einblick in ihre Seele, Gedanken und unfreiwillig auch ihr Intimstes gewährt wie durch offene Tore eines verlassenen Hauses. Jetzt war diese Erinnerung zerstört, der scheinbar beste Freund und Vertraute verloren, genauso wie die Freude, die sie stets in ihrer Wohnung empfunden hatte, Sicherheit und Geborgenheit. Hätte er damals Wünsche geäußert, wer weiß, welche sie in ihrer grenzenlosen Dankbarkeit erfüllt hätte. Aber so fühlte sie sich in viel schlimmerem Maße betrogen und hintergangen, als von Rick. Er war krank, eiskalt in der Durchsetzung seiner Interessen und glaubte, sie auf seine abartige Weise lieben und besitzen zu können. Sie hatte das Gefühl, mitten auf hoher See Schiffbruch erlitten zu haben.
Lange rang sie mit sich, Paul ins Vertrauen zu ziehen. Dann aber müsste sie ihm sagen, dass auch er in den Liebesstunden mit ihr beobachtet wurde, ein Gedanke, der sie abschreckte. Er würde sofort Anzeige erstatten. Mord und versuchten Mord würde man nicht nachweisen können, es bliebe nur ein Verstoß wegen Verletzung ihres höchstpersönlichen Lebensbereichs; sie hatte einen befreundeten Anwalt angerufen, § 201a des Strafgesetzbuchs, wenn sie ihn richtig verstanden hatte, mit einer relativ geringen Höchststrafe, einer Verhöhnung ihrer inneren Qualen. Sie musste es noch für sich behalten, nur mit Gila könnte sie darüber reden.
Paul war sehr beunruhigt über Louises Zustand, von dem er erst am Morgen der Einlieferung erfuhr. Gila informierte ihn gleich, er ärgerte sich, dass er am Vorabend sein Handy ausgeschaltet hatte, wahrscheinlich versuchte sie noch, ihn zu erreichen. Wenn er sein Lauftraining machte, nahm er es zwar mit, schaltete es aber aus, weil er dabei nicht gestört werden wollte. Außerdem hatte er meist die Stöpsel des iPods im Ohr, um seiner Lieblingsmusik zu lauschen, die ihn entspannte. Zur Zeit Carmina Burana, eine Aufnahme des Radio-Symphonie Orchesters Berlin, die er ständig hörte, mittelalterliche Gesänge über Sitten, Missstände, pralles Leben dieser Zeit, rhythmisch umgesetzt und ausdrucksstark. Wie hatte er auf dem Cover gelesen. Orffs Musik auf einer CD nimmt sich aus wie Wagner auf der Mundharmonika’, das hatte ihm gefallen. Hano, der so großspurig seine Kondition in Frage stellte, hielt nur bis zum zweiten Drittel der Strecke mit. Erst auf dem Rückweg las er ihn wieder auf. Er sagte nichts zu ihm, empfand es aber als kleinen Triumph. Weil es danach spät war, meldete er sich nicht mehr bei Louise.
Bleich und ruhiggestellt, lag sie im Bett, angeschlossen an eine Infusion. »Was machst du nur für Sachen?« Sein liebevoll besorgter Blick wärmte sie. »Die Aufregungen der letzten Tage waren zu viel für dich. Jetzt kommen ruhigere Zeiten«, sagte er aufmunternd. Davon war sie keinesfalls überzeugt.
Ein riesiger Blumenstrauß schob sich langsam durch die Tür. Mattuschke besuchte sie. Sie musste sich abwenden, als sie sein bekümmertes Gesicht sah, schloss die Augen. Er dachte, sie sei eingeschlafen, saß noch eine Weile am Bett, berührte ihre kühle Hand, dann schlich er auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Gila holte sie an der Klinik ab, Paul hatte eine Konferenz, die ihn leider daran hinderte, und fuhr sie in ihre Wohnung. Er war zwar nicht damit einverstanden, beugte sich aber dem Argument, sie dort den ganzen Tag über betreuen zu können. Auch Mattuschke war nicht glücklich darüber, schließlich sei er ständig in der Nähe, im übrigen könne Frau Schlemil, die an zwei Tagen in der Woche reinige, einen weiteren kommen. Die Ruhe und Abgeschiedenheit in Gilas Wohnung empfand Louise wie Urlaub. Im Krankenhaus hatte man sich sehr um sie bemüht, aber der hektische Ablauf verschaffte ihr nicht die Ruhe, die sie benötigte. Dauernd öffneten sich Türen, vom Gang drangen Geräusche zu ihr bis in die Nacht hinein, und wenn sie eingeschlafen war, standen gerade Fieber-, Blutdruckmessen, Visite oder Kontrollgänge der Nachtschwester an. Besonders strapaziös waren Besuche ihrer Mutter, die sich in gut gemeinten Vorwürfen erschöpften, von Mattuschke, weil sie sie stark aufregten und von Hano, der dort arbeitete, laufend Zugang hatte und wie ein Wasserfall auf sie einredete. Sie fand es zwar rührend, wie er sich um sie sorgte und sie
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