Mattuschkes Versuchung
gehen wir doch zum Du über, unsere Namen kennen wir ja. »Vera«, »Louise« und »Rick«, sagten beide. Wieder gab es einen Bruderkuss, diesmal noch inniger, dann entschwebte sie, so plötzlich wie sie gekommen war. Sie wirkte ganz anders, als an dem Abend, an dem sie zum ersten Mal zusammentrafen, damals trug sie ein elegantes, dunkelblaues, rückenfreies Kleid zu hochhackigen Schuhen und heute verwaschene Jeans, karierte Bluse, deren Kragenspitzen sich lustig nach oben wölbten, einen uniblauen Pullover feiner Wollqualität und Chucks, was sie sehr sportlich und jugendlich aussehen ließ.
»Ich habe sie zunächst gar nicht erkannt«, meinte Rick, »eine flotte Biene und nicht wenig sexy.«
»Ich war am Anfang auch irritiert, so wirkt sie natürlicher, noch sympathischer, sehr nett, dass sie an uns gedacht hat.«
Als sie am Morgen in den neuen Räumen erwachten, hatten sie das Gefühl, noch nie im Leben so gut geschlafen zu haben. Jetzt erst wurde ihnen bewusst, wie unruhig und laut die alte Behausung war, Schritte auf dem Flur, wenn andere die Toilette aufsuchten, Fußgetrippel auf dem Bürgersteig und der Verkehrslärm der belebten Straße. Hier dagegen herrschte himmlische Ruhe. Louise streckte ihre Glieder aus und gähnte; sie war zufrieden und glücklich mit der neuen Wohnsituation. Voller Elan sprang sie aus dem Bett, heute würde sie die Schränke auswischen, Geschirr einräumen, Wäsche verstauen. Die Euphorie des Neuen und das Eingewöhnen in die andere Umgebung hatten die inneren Zweifel an der Partnerschaft mit Rick vorübergehend verstummen lassen. Langsam meldeten sie sich wieder und riefen ihr Gilas Worte in Erinnerung. Seit dem damaligen Gespräch hatten sie das sensible Thema nicht mehr berührt.
Erst auf Umwegen gelangte die Einladung zu Leilas überraschender Hochzeit zu ihnen; ursprünglich an die alte Anschrift adressiert, benötigte der Brief über zwei Wochen, ehe er die aktuelle Adresse erreichte. Viel Zeit blieb nicht mehr; schon in zwei Tagen sollte die Vermählung stattfinden. Sie wussten zwar, dass sie mit Freddy zusammen war, der wenige Male das Silverspot besucht hatte, weil er meist seinen sportlichen Ambitionen nachging, aber dass die Sache so ernst und eilig war, verwunderte. Freddy war ein undurchsichtiger Typ mit maskenhaftem, von Akne zerfurchtem Gesicht, dem man kaum Mimik ansehen und nie erkennen konnte, welche Emotionen ihn gerade beherrschten oder ob solche überhaupt vorhanden waren. Er war groß und breitschultrig, besaß klaviertastengroße Zähne, hielt sich leicht vornüber gebeugt, was seine abstehenden Ohren nicht nur besser ins Bild rückte, sondern auch der optimalen Klangaufnahme diente, trug stets Lederjacken unterschiedlichster Gestaltung und das im Sommer und Winter, Temperaturen stoisch ignorierend. Nach einer kaufmännischen Lehre, machte er eine Weile in Immobilien, setzte ein übernommenes Tattoo-Studio in den Sand und tätigte aktuell undurchsichtige Geschäfte. Jedenfalls glaubte er, durch rasche Heirat Peppermint-Leilas Namen annehmen und sich damit fürs Erste gewisser Verpflichtungen und Nachstellungen entziehen zu können.
Er war der viel beachtete Fan, der seine Freundin im Fußballstadion überrumpelte und sie vor zwanzigtausend Zeugen zum unüberlegten Jawort verführte. Louise war perplex als sie die Story hörte und hatte kein gutes Gefühl. Diesmal gab sie Gila recht, die dieselben Bedenken äußerte. Schnell besorgte sie ein Geschenk und ließ sich von Gila Ricks Krawatte binden, was er nicht konnte, da er nie eine trug.
»Ein Mann, der keine Krawatte binden kann, ist noch nicht erwachsen«, war Gilas gewohnt kritischer Kommentar. Die Hochzeit stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Leilas Eltern blieben ihr fern, da sie mit der Hals über Kopf Aktion und dem Ehemann nicht einverstanden waren, andere Verwandte ignorierten die Einladung ebenfalls, so dass nur Sophie, die Disco-Clique und zwei weitere Freundinnen ihre Seite vertraten, während alle anderen aus Freddys Lager stammten. Typen wie aus dem Komparsencasting für einen Ganovenfilm. Das aufwändige Hochzeitsessen und -gelage durfte Leila von ihrem üppigen Ausbildungsgehalt bezahlen, da ihr Gatte gerade nicht flüssig war, was so klang, als habe er sein stattliches Vermögen nur auf die Schnelle nicht in liquide Mittel transformieren können. Leila waren Verunsicherung und Enttäuschung so deutlich anzusehen, wie bei einem nicht abgegebenen Sechser-Gewinnschein, den schönsten
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