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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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an, meinetwegen einen Umweg über Österreich zu fahren. Dazu würde er mich unter den Gemüsekisten verstecken. Ich entschied mich dafür und kroch unter die Kisten. Lag bewegungslos. Es dauerte eine Ewigkeit,dann hielt der Wagen wieder. Ich hörte Stimmen, konnte aber nichts verstehen. Ich wartete und wartete in großer Anspannung. Endlich öffnete sich die Tür.
    War ich nun in Österreich?
    Der Mann zeigte in eine Richtung, in die ich laufen sollte. Er hatte es sich anders überlegt. Ich hörte lautes Hundegebell. Dort war bestimmt die Grenze. Woran sollte ich mich mitten in der Nacht orientieren? In einem Gelände, das ich nicht kannte! Vor den Hunden hatte ich Angst. Nach einer Weile glaubte ich, Geräusche von der Straße zu hören. Ich fand im Dunkeln schließlich dorthin, und ein Auto nahm mich mit. Um Mitternacht traf ich in Bratislava ein. Ab 20.00 Uhr herrschten Ausgangssperre und Kriegsrecht im ganzen Land. Es war lebensgefährlich, sich auf der Straße aufzuhalten. Auf einem großen Platz standen Panzer. Einige Menschen gestikulierten vor russischen Soldaten. Es waren meine Freunde, sie versuchten als harmlose Touristen zu erscheinen, gaben vor, der Zug habe sich verspätet. Endlich ließen die Russen uns passieren. Da ich keine Krone mehr hatte, bezahlten meine Freunde für mich das Hotel. Wir genossen es, beisammen zu sein. Am nächsten Morgen erkundeten W. und H. die Fluchtroute. Sie fuhren ins Grenzdorf, inspizierten die Mauer. Wir Frauen versuchten noch einmal Quartier für eine Nacht zu finden. Die Besatzungsvorschriften erlaubten nur eine Übernachtung im Interhotel. Wo würden wir die kommende Nacht schlafen? Mein Blick fiel von der Straße aus in ein Café. Dort saß ein Bob-Dylan-Typ, mit dunkler Brille. Ich ging auf ihn zu, er lächelte mich an, und ich fragte ihn ohne Umschweife, ob ich bei ihm übernachten könne – und noch vier Erwachsene und ein Kind. Er musterte mich, sah auf die anderen, lachte und meinte, daß wir Glück hätten, auf ihn zu treffen. Kurz zuvor hatte er seine Frau mit dem Kind aufs Land gebracht. Der Aufenthalt dort für die Familie erschien ihm weniger gefährlich. Er war Architekt; wir besetzten seine nicht allzu große Wohnung für eine Nacht. Für die nächste war die Flucht geplant.Den folgenden Tag hatten wir Zeit, um uns vom Sozialismus freudig zu verabschieden. Wir initiierten ein euphorisches Happening: Ausweise der Gewerkschaft, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und der Freien Deutschen Jugend wurden zerrissen und in die Morava gestreut.
    Wie oft fragten wir uns wohl, um unsere Stimmung zu heben: Wo werden wir in Wien frühstücken? Wir waren guter Laune. Abends fuhren wir mit dem Bus ins Grenzdorf. Es war bereits düster, als wir ausstiegen. Die Grenze war noch nicht beleuchtet. Ich hielt das für günstig und meinte, wir sollten die Flucht sofort wagen. H. sagte, das wäre gegen unseren Plan, der erst Mitternacht starten sollte. So liefen wir nach Plan in die Berge, um Mitternacht abzuwarten. Unzählige Mücken plagten uns. Wir mußten unheimlich vorsichtig sein, denn nun kontrollierten Scheinwerfer das gesamte Gebiet.
    Endlich war Mitternacht.
    Wir liefen die Berge im Trab hinunter, über uns die Lichtkegel der Scheinwerfer. Kurz vor dem Überklettern der Mauer sprang ein Hund auf die Schulter von D. Zwei Soldaten lagen bereits am Grenzzaun und erwarteten uns. Ein Jeep kam und lieferte uns auf der nächsten Wachstation ab. Der Offizier griff zum Telefonhörer, um die DDR-Botschaft zu benachrichtigen. Diese Information würde uns ins Gefängnis bringen. Mitten im Anwählen fragte ich ihn, ob er das verantworten könne, daß dieses kleine Mädchen, fünf Jahre alt, in ein Waisenhaus käme, solange die Eltern im Gefängnis sind? Ich sagte auch, daß wir uns schämen würden, weil die DDR mitgeholfen habe, sein Land zu besetzen. Wir hätten auf Dubček gehofft, nicht auf Ulbricht. Er hielt inne. Meine Vermutung bestätigte sich, daß es auch in der Armee Dubček-Anhänger gab. Von einer Minute zur anderen veränderte sich sein Verhalten. Wir bekamen Tee und Schmalzstullen. Wir mußten ihm das Versprechen geben, mit dem nächsten Zug in die DDR zurückzufahren.
    Wieder stiegen wir in den Jeep, der uns zum BahnhofBratislava brachte. Meine Freunde fuhren in die DDR zurück. Ich stieg in Prag aus.
    Ohne einen Pfennig, ohne Quartier und gültige Papiere.
    Ich flehte gen Himmel: Hilfe! Die Flucht mußte klappen, irgendwie. Wo sollte ich

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