Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
Vom Netzwerk:
sozialistische Ausland, jährlich rollte sie Tausende Kilometer per Anhalter durch den Osten. Ich hatte sie schon einmal zufällig in Kraków getroffen.
    Dieses Per-Anhalter-Fahren war für sie ein Synonym für Freiheit. Einfach auf der Straße stehen, irgendein fremder Mensch hält an und nimmt einen mit. Sie ließ beim Winken unterwegs auch mal die DDR-Autos aus, in der Hoffnung, mit einem schnittigen Westwagen ein Stück mehr dergroßen Freiheit zu erhaschen … Zu Hause trampte sie allein zehn bis zwanzig Mal im Jahr nach Hiddensee. Ihr Zimmer dort kostete ganze zwei Mark die Nacht. Und im Besucherbuch hielt sie immer den Jahresrekord an Eintragungen. Wir stießen mit Schubi auf ein neues Leben an, ließen uns von ihrer Fröhlichkeit, ihrer Lebenslust anstecken, tanzten uns heiß. Auch Mokkatörtel und ich genossen das freie Leben in vollen Zügen. Seit Tagen wollten wir eigentlich nach Budapest trampen, aber wir verschoben die Abreise immer wieder. Prag nahm uns gefangen.
    Keine Straße in Prag, wo nicht mit Kreide an die Hauswand geschrieben stand »Viva Dubček«. Dann kam Tito zu Besuch. Die Menschen strömten zur Kleinseite, um ihn auf der Burg zu empfangen. Junge Leute mit Transparenten, Sprechchören: »Tito ano, Ulbricht nje!«
    Die Worte ließen sich leicht ins Deutsche übersetzen. Hier in Prag stimmten wir aus tiefstem Herzen in den Sprechchor ein: »Tito ano, Ulbricht nje!«
    In Prag konnten wir lauthals gegen den Staatsratsvorsitzenden sein! Ein großartiges Gefühl, auch wenn wir in die DDR zurück mußten.
    Vor dem Eingang zur Burg, dem Regierungssitz, hatten sich an diesem 9. August Tausende versammelt. Auf jedem Mauervorsprung standen Menschen, jedes Schmuckgitter an den Fenstern im Erdgeschoß wurde zum Festhalten benutzt, selbst auf Torbögen kletterten junge Leute. Die zauberhaften Miniröcke der jungen Mädchen erschienen von unten noch kürzer.
    Durch die Menschenmassen hatten wir keinen Blick auf die Straße. »Wir müssen eine Erhöhung finden, sonst sehen wir gar nichts.«
    »Los, wir klettern auf eine Laterne!«
    Mokkatörtel und ich bestiegen jeweils einen schmiedeeisernen Laternenpfahl. Es ging uns so wie öfters in jenen Tagen in Prag, spontan traute man sich hier, was man in der DDR nicht gewagt hätte. Es war das erste Mal, daß wir ahnten, wie vielfältig Freiheit wirken konnte. Bei so einer Klettereiwäre in der DDR garantiert ein Vopo gekommen und hätte gefragt: »Na, Bürger, was wollen wir denn dort oben auf der Laterne!?«
    Hier interessierte sich kein Polizist für uns.
    Schließlich kamen die schwarzen Regierungslimousinen. Jubel brandete los. Wie in einem Stadion, wenn die Nationalelf das dritte Tor geschossen hat. Alle winkten, schrien, ruderten mit den Armen durch die Luft. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. So viel echte Begeisterung, noch dazu für zwei Staatsmänner, hatte ich bisher nie erlebt. Mokkatörtel strahlte, und ich schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Sagenhaft!«
    »Stell dir so etwas in Leipzig vor!«
    Die Wagen rollten in das Burggelände. Der Jubel und die Sprechchöre ebbten nicht ab. In Prag wurde erzählt, daß Tito nur deshalb im geschlossenen Wagen fuhr, weil die Gefahr eines Attentates durch Ustascha-Faschisten bestand, daß sie die Chance nutzen könnten, aus einem westlichen Land in die ČSSR einzureisen.
    Immer wieder brandeten Sprechchöre auf: »Viva Dubček!«
    Nach einiger Zeit öffnete sich schließlich in der Burg ein Fenster, und Alexander Dubček winkte den Massen zu. Die Begeisterung muß bis zur Karlsbrücke zu hören gewesen sein!
    Dubček wirkte etwas verlegen, als könne er kaum fassen, daß die Masse der Menschen tatsächlich ihn meinte. Er war 47 Jahre alt und damit im Verhältnis zu den Chefs der Kommunistischen Parteien in Osteuropa geradezu blutjung.
    Spät in der Nacht bzw. früh am Morgen gingen wir, nachdem wir noch das »U fleků« besucht und die Musik im legendären Jazzclub »Reduta« genossen hatten, müde und übermütig in Richtung Wenzelsplatz. Den letzten Bus zu unserem Studentenhotel hatten wir längst verpaßt. Wir mußten laufen, denn ein Taxi konnten wir uns nicht leisten.Es war aber noch recht weit bis zu unserer Bleibe. Plötzlich kam ich auf eine Idee: »Na, dann müssen wir eben in unser Quartier trampen.«
    Das nächste Fahrzeug, dem wir aus Spaß winkten, war ein Sprengwagen. Aber, o Wunder – er hielt tatsächlich an! Der junge Mann konnte Deutsch, studierte Germanistik und verdiente sich mit

Weitere Kostenlose Bücher