Mauer, Jeans und Prager Frühling
winkte, wir durften weiterfahren.
Ich fragte, was Kemal mit dem Grenzer besprochen habe, und erfuhr, daß der Beamte wissen wollte, ob er jener Kemal wäre, der die verwundeten Slowaken ins Krankenhaus gefahren habe. Jahre später erfuhr ich, daß diese Jugoslawen während der Besatzung todesmutig mitten im Gewehrhagel Slowaken geholfen hatten. Hatte der Grenzer über seine Freude, Kemal zu treffen, mich vergessen? Oder wollte er mich nicht sehen?
Kemal rettete auch mich. Ohne irgendeine Entschädigung.
Am 23. Oktober 1968 war ich 22.20 Uhr in Wien und frei!«
Irgendwann erhielt ich von Schubi eine Postkarte aus Schweden. Sie schrieb mir, daß sie demnächst in Westberlin ein Kunststudium aufnehmen würde.
Silvia Dzubas lebt heute als Malerin in Berlin. Ihr Vater, Jude und Kommunist, er überlebte das KZ , bekam nach Schubis Flucht die Rache des Apparates zu spüren. Die staatliche Behörde kürzte seine Zusatzrente, die er als Verfolgter des Naziregimes erhielt, und er mußte auf Parteiversammlungenscharfe Kritik wegen seiner verfehlten Erziehung erdulden.
Auf besondere Weise kehrte Schubi 1998, genau dreißig Jahre nach ihrer Odyssee, für eine Zeit nach Prag zurück. In einer Prager Gedenkstätte wurden ihre Bilder ausgestellt.
Guido
Wer in der DDR irgend etwas tat, was in den Augen der Machthaber von einer feindlichen Position aus geschah, der bekam die Willkür dieses Staates schmerzhaft zu spüren. Die folgende Geschichte zeigt das sehr eindringlich.
An einem Wochenende im August 1968 stand mein Freund Guido – er lernte zu der Zeit beim VEB Stahlbau in der Zinkerei – wieder einmal mit seiner Meute an der Ecke bei Foto-Seyboth in der Karl-Liebknecht-Straße. »Es war schweinewarm.« Die Jungs hatten aber keine Lust, baden zu gehen. »Los, mir gehn in die Stadt!« Sie hofften, daß sie dort vielleicht ein paar Mädchen kennenlernen würden. Die ganze Truppe trug vietnamesische Badelatschen. Das waren jene Dinger, bei denen ein Gummi zwischen den Zehen die Pantolette am Fuß verankerte. »Man glitschte bei der Hitze tüchtig in den Latschen rum.« Irgend jemand kam auf die Idee, die »Scheiß-Schuhe« auszuziehen und barfuß zu gehen. Also schmiß die Meute die Pantoletten in eine Ecke jenes Hauses, in dem sich die Bierkneipe mit dem schönen Namen »Stehfest« befand, und machte sich auf nackten Sohlen davon. Ein Kofferradio war natürlich immer dabei. Ziel war die Milchbar neben dem Filmtheater Capitol. Erdbeershake hieß damals das Mode-Getränk.
Dann bummelten die jungen Leute noch ein wenig durch die Stadt, mit Mädchen war an diesem Tag nichts los. Die zogen bei der Hitze wohl das Freibad vor. Gelangweilt schlenderte Guidos Truppe zurück, sie holten ihre Kunststoff-Latschen und gingen einzeln nach Hause. Das alles passierte an einem Sonntag. Am Montag stieg Guido wieder in den A-Bus und fuhr in die Spinnereistraße zu seiner Lehrstelle. »Vor dem Frühstück hieß es, ich soll zum Obermeister kommen. Da mußtest du eine Stahltreppehoch. In seinem Büro sah ich noch zwei andere Typen mit drin stehen. Der Obermeister sagte: ›Na, Brüssow, was hast du denn ausgefressen?!‹ Ich antwortete: ›Nischt, was soll ich denn gemacht haben, gar nischt.‹ Plötzlich forderten mich die zwei Typen auf, ich sollte mitkommen, und dabei haben sie etwas von Rumgammeln gesagt. Dann führten die mich ab, und draußen stiegen sie mit mir in einen Barkas-Bus. In dem Moment ging mir der Frack, ich wußte ja überhaupt nicht, was los war. Ich bekam Angst. Meine Arme waren auf den Rücken gedreht und mit einer Kette gefesselt. Da saß ich nun in dem Auto mit meinen dreckigen Arbeitsklamotten. Sie fuhren mich irgendwohin. Als ich ausstieg, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand. Von meiner Hose mußte ich den Gürtel abmachen. Ich mußte alles zeigen, was ich einstecken hatte. Meine ›Juwel‹ oder ›Jubilar‹ nahmen sie mir weg. Dann führten sie mich in eine Zelle. Die sah ganz gruselig aus. Ein enger Raum, ein Brett, das mit einem Schloß an der Wand befestigt war. Die Pritsche wurde abends runtergeklappt. Ich habe den ganzen Tag gestanden. Ein Fenster war ziemlich weit oben, da wäre ich nie rangekommen. Wenn ich auf die Toilette wollte, mußte ich klopfen. An eine Stahltür. Ich habe gedacht, ich spinne, was sollte denn das alles?
Irgendwann holte mich jemand ab: ›Komm mal mit!‹ Da saß einer in Uniform in einem komischen dunklen Zimmer. Heute würde man sagen: Ich dachte, ich bin im falschen Film!
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