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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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schlafen?
    Mitten im Zentrum, im Gedränge, fragte ich eine Passantin, die in meinem Alter war, ob ich bei ihr übernachten könne. Sie musterte mich und sagte: ›Ja, für eine Nacht.‹ Am nächsten Tag kam ich bei einem Schönling unter. In seiner großen Wohnung auf der Kleinseite verbrachte ich etwa 10 Tage.
    Ich suchte die westdeutsche Handelsvertretung auf; sie befand sich damals noch am Wenzelsplatz. Dort berichtete ich von meiner verfahrenen Situation, daß mir sowohl bei Rückkehr in die DDR Bestrafung drohte als auch bei weiterem Verbleiben hier in Prag. Der Beamte deutete mir an, daß wir abgehört würden. Ich sollte nicht weiterreden. Er könne mir leider nicht helfen. Dasselbe in der chinesischen Botschaft auf der Kleinseite. Etwas anders verlief der Besuch in der schwedischen Botschaft. Sie gaben mir konkrete Hilfestellung. Da mein Bruder in Stockholm lebte, schlug man vor, daß er in meiner Angelegenheit in der israelischen Botschaft vorsprechen solle. Mit einem Laissez-passer wäre es möglich, von Prag via Wien nach Israel auszureisen. Beide Botschaften würden mir dabei helfen.
    Mein Bruder machte sich auf den Weg zur Botschaft. Wegen der Feiertage in Israel war sie aber gerade geschlossen. Einen weiteren Versuch unternahm er nicht. Er wußte, daß ich mich in großer Gefahr befand und daß jeder Tag zählte. Das schien ihn jedoch wenig zu kümmern.
    Im Hotel Alcron arbeiteten Journalisten der großen westlichen Zeitungen. Hier lärmte und summte es ununterbrochen. Einige Journalisten versprachen mir, mit einem Paß zu helfen. Ich saß wie auf Kohlen, wartete, hörte zu.
    Wer würde kommen und mir einen Paß bringen? In welches Land? Wer würde mich aufnehmen?
    Plötzlich sprach mich der Hotelmanager an, er fragte nach meinem Paß. Als ich ihm den DDR-Personalausweis zeigte, wurde er zornig. Was ich hier wollte? Ob ich nicht wüßte, was das ›Neue Deutschland‹ über dieses Hotel schreibe? Das ›Alcron‹ würde als konterrevolutionäres Nest beschimpft. Er wollte die DDR-Botschaft anrufen. Ich sagte ihm, daß ich nicht in die DDR zurückkehren wolle. Ich mußte ihm versprechen, das Hotel nicht wieder zu betreten, und durfte mich von niemandem verabschieden.
    Nur wenige Schritte vom Hotel entfernt traf ich Karl, den ich flüchtig kannte. Er bot mir sofort an, daß ich bei ihm wohnen könne. Ich bezog das schönste Zimmer mit Musikanlage, erhielt Taschengeld. Liebenswürdige Menschen waren um mich: Karl und seine Schwester Maria. Mittlerweile war es Mitte September geworden. In Leipzig würde man schon die Polizei eingeschaltet haben. Schaute mich jemand etwas länger an, so stieg ich aus der Straßenbahn aus. Im Café Slavia wurde ich einmal durch die Kaffeehausscheiben von der Straße aus fotografiert. Was steckte dahinter? Ich verschwand sofort.
    Ab September gab es wieder westdeutsche Touristen in Prag. Mit einem Verlagsangestellten und einem Buchhändler schloß ich Bekanntschaft. Sie wollten mir helfen. Ich gab zwar nicht viel darauf, schrieb ihnen aber meine Telefonnummer auf. Nach zirka drei Wochen erhielt ich einen Anruf. Ich sollte unbedingt zu einem Fest nach Bratislava kommen. Ich würde vom Bahnhof abgeholt. Lebt wohl, Karl und Maria, ihr wunderbaren Menschen. Ich stieg in den Zug.
    Abends traf ich in Bratislava ein. Zwei Jugoslawen und eine Frau mit einem Kind auf dem Arm sprachen mich am Bahnhof an. In ihrem Auto sollte ich am späten Abend nach Wien fahren. Ich würde den Platz der Frau einnehmen. Die Frau schien zehn Jahre älter als ich, verhärmt und dünn. Ich zögerte. Mit so wenig Aussicht auf Erfolg hatte ich noch nie eine Flucht angetreten. Andererseits war ichschon so lange untätig. Da wuchsen Resignation und Verzweiflung. Doch eine andere Chance war nicht in Sicht. Schließlich gingen die jugoslawischen Helfer ebenfalls ein Risiko ein, und wenn sie dazu bereit waren – warum sollte nicht auch ich es sein!
    Ich mußte meinen neuen Namen lernen. Ich wiederholte ihn alle fünf Minuten, und in der siebenten war er wie ausgelöscht. Unser Unternehmen startete gegen neun Uhr. Auf dem Rücksitz mit tief ins Gesicht gezogenem Kopftuch saß ich, das Kind auf dem Schoß. Vorne saßen mein fiktiver Gatte und sein Bruder Kemal. An der Grenze reichte mein ›Ehemann‹ unsere beiden Pässe hin. Der Soldat schaute mich an und schüttelte den Kopf. In diesem Moment übergab Kemal auch seinen Paß. Es wurden Worte gewechselt, Fragen gestellt, die ich nicht verstand. Der Grenzer

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