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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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Menschen war immer wieder in jener Zeit die Karlsbrücke. Dort lernte sie auch junge Leute kennen, die ihr weiterhalfen. Silvia Dzubas erzählt von ihrer abenteuerlichen Reise:
    »Meine Kompagnons von der Karlsbrücke vermittelten den Kontakt zu einem jüdischen amerikanischen Paar. Die beiden wirkten auf mich genau so, wie ich mir Juden in Amerika immer vorgestellt hatte: hilfsbereit, selbstbewußt, frei. Gemeinsam überlegten wir, wie sie mir helfen könnten, in den Westen zu gelangen. Wir heckten einen Plan aus für den nächsten Tag. Ich sollte meine Haare eindrehen mit Lockenwicklern und damit im Schlafwagenzug nach Wien fahren.
    Mein ›amerikanischer Gatte‹ würde dem Schaffner diePässe zeigen. Ich sollte nur verschlafen blinzeln. Nach der Ankunft in Wien wollten wir die Ehefrau telegrafisch benachrichtigen. Den Verlust ihrer Papiere, ihrer Handtasche hätte sie dann bereits der amerikanischen Botschaft gemeldet. Der Plan gefiel mir gut.
    Es war die Nacht zum 21. August 1968. Ich konnte nicht einschlafen, war müde und zugleich aufgeregt. Hörte furchtbares Gebrumme und Getöse, so nah, daß es geisterhaft klang. Es gelang mir nicht, diese Geräusche zu deuten. Letztlich dachte ich, daß es an meiner Aufregung liege. Ich kam nicht im Traum darauf, daß die Brüder aus dem Ostblock die Stadt besetzten.
    Die Geräusche von Flugzeugen, wie sie meine Geschwister bestimmt vom Krieg her kannten, habe ich nie gehört. Ich bin Ende der Vierziger geboren, und dies war meine erste Berührung mit einer Kriegssituation. In jeder Minute landete auf dem Flughafen Ruzyně ein sowjetisches Flugzeug. Vollgestopft mit Panzern und Soldaten. Das war ungeheuerlich. Auch zu ungeheuerlich für meine Phantasie und politische Vorstellungsgabe. Am nächsten Morgen stand ich vor der Tür des Studentenhotels in der Opletalovastraße und hörte Schüsse vom Wenzelsplatz. Die Prager hielten sich Transistorgeräte ans Ohr, sprachen aufgeregt miteinander.
    Ist Krieg?
    Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich fliehen will?
    Ich verstand gar nichts. Wer gegen wen? Was würde nun aus meiner Flucht mit dem Nachtexpreß nach Wien? Ich mußte auf den Hradschin. Dort hatte ich mich mit meinem ›amerikanischen Ehemann‹ verabredet.
    Am Wenzelsplatz steckten die Russen ihre Köpfe aus den Panzern, in heftige Diskussionen mit der Prager Bevölkerung verwickelt. Nicht alle Soldaten wußten, wo sie einmarschiert waren. Waren sie in Westdeutschland? Nein, ihr seid in der Tschechoslowakei, riefen ihnen die Prager zu. An den Schaufensterscheiben der Geschäfte klebten selbstgefertigte Plakate: Brüder, wir haben euch nicht um Hilfegebeten, geht nach Hause! Alle Wegweiser der Stadt waren verdreht und die Straßennamen überklebt. Tschechischen Witz spürte man in der Geisterstadt Prag allerorten. Man hatte auch Weichen verstellt, sollten doch die Truppenzüge im Kreis fahren. Iwan go home, wir brauchen dich nicht.
    Ich traf meine jüdischen Helfer zwar wie verabredet am Hradschin, aber sie trauten sich nicht mehr, mit mir die Flucht zu wagen. Die Kriegssituation beunruhigte sie, und sie fügten sich der offiziellen Weisung, das Land sofort zu verlassen. Ich wollte nun erst recht nicht in die DDR zurück. Vor allem deshalb nicht, weil ich wußte, daß auf jeder Universität, in jedem Betrieb gegen den Prager Frühling gehetzt werden würde. Nein, das wäre mir wie ein Verrat am Paradies vorgekommen. Verrat an meinen eigenen Träumen. Keine Lockenwickler und kein Nachtexpreß entführten mich also nach Wien. Wenige Tage später traf ich nahe der Karlsbrücke Freunde aus der DDR. Da wir einander vertrauten, erzählte ich ihnen, daß der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen meine Chance, nach Wien zu kommen, vereitelte hatte. Meine Vermutung bestätigte sich. Auch sie planten eine Flucht vom Drei-Länder-Zipfel aus. Hier treffen Österreich, Ungarn, die Slowakei, getrennt durch den Grenzfluß Morava, aufeinander. Sie hatten erfahren, daß von tschechischer Seite nicht nach Österreich geschossen würde, weil die österreichische Regierung gerade vehement gegen Schüsse an ihrer Grenze protestiert hatte.
    Nachts wollten wir diesen Grenzfluß durchschwimmen: fünf Erwachsene und ein fünfjähriges Mädchen. Meine Freunde fuhren mit dem Zug nach Bratislava. Ich trampte, da ich kein Geld mehr für eine Zugfahrt hatte. Ein ungarischer LKW hielt. Ich erzählte dem Fahrer, daß ich eigentlich nach Österreich wollte, aber keinen entsprechenden Paß besaß. Er bot mir

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