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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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bürgerliches, urgemütliches Lokal in der Walther-Rathenau-Straße.
    Am nächsten Schultag erfuhren wir, daß wir nicht die einzigen waren, die das Klassenzimmer fluchtartig verlassen hatten. Da zu wenig Schüler für eine Arbeit in den Bänken geblieben waren, verschob »Mons« die Leistungskontrolle auf die nächste Stunde! Alle Mühe war umsonst gewesen!
    Ein triftiger Grund, die Schule am Abend vorzeitig zu verlassen, war auch die Ausstrahlung einer Krimi-Serie im West-Fernsehen. Ich eilte durch die menschenleeren Straßen, um den Beginn nicht zu verpassen; weil wir zu Hause keinen Fernsehapparat besaßen, flitzte ich zu meinem Freund Rudi in die Johannisstraße. Den Krimi-Mehrteiler »Das Halstuch« von Francis Durbridge konnten wir kaum erwarten. Zwei Reihen mit je vier Stühlen standen schon bereit. Echtes Heimkino. Dieser englische Autor war quasi der neue Edgar Wallace. 30 Millionen Bundesbürger saßen gebannt vor der Mattscheibe … und fast die ganze DDR. Die Straßen waren wie leergefegt, Veranstaltungen wurden verlegt, weil man um den Besuch fürchtete. Dem bekannten Kabarettisten Wolfgang Neuss war das Suchtverhalten von Millionen Deutschen ein Dorn im Auge, es nervte ihn, und er gab in einem Inserat unter seinem bekannten Pseudonym Genosse Münchhausen im »Abend« bekannt, daßDieter Borsche der Mörder sei. Neuss empfahl der Bevölkerung, doch lieber wieder einmal ins Kino zu gehen.
    Der eigentlich vom Volk geliebte Kabarettist hatte nun das Volk gegen sich. Er wurde am Telefon beschimpft, ein Anrufer drohte sogar: »Das nächste Opfer sind Sie!«
    Dazu kam es zum Glück nicht. Er konnte noch einige Jahre auf die Pauke hauen, »Neuss Deutschland« und »Neuss Testament« veröffentlichen. Unvergeßlich ist er für mich in »Wir Wunderkinder«, der besten heiter-satirischen Verarbeitung der Nazi-Zeit plus folgender Nichtaufarbeitung dieser Periode in der Bundesrepublik. Unvergeßlich auch im »Spukschloß im Spessart«, beides Kurt-Hoffmann-Filme.
    In meine Oberschulzeit fiel die Ermordung Kennedys im November 1963. Wir erfuhren es an einem Schultag, konnten es kaum fassen. Ein Schock für alle. Kennedy war auch im Osten sehr beliebt gewesen. Mit ihm verbanden sich viele Hoffnungen. Er hatte unseren Respekt, weil er sich für die Gleichstellung der Schwarzen in den USA einsetzte. Und wir hatten alle gehofft, daß er die Entspannung zwischen beiden deutschen Staaten befördern würde. Endlich gab es Passierscheine für die Westberliner, und durch die Mauer getrennte Familien konnten sich wenigstens auf diese Weise einmal wiedersehen.
    Was beschäftigte uns sonst noch in der Abendoberschule?
    Immer wieder hörten wir von »Gesetzmäßigkeiten«. Im Marxismus-Leninismus war bekanntlich alles gesetzmäßig. Auch das Entstehen der sozialistischen Staaten. Da hatte ich große Zweifel. Ich fragte den Lehrer, ob Hitler auch gesetzmäßig gewesen wäre? Denn ohne Hitler und die Nazis hätte es doch wohl keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, und ohne den Angriff auf Rußland wäre die Rote Armee auch nicht nach Berlin gekommen, und es wären keine sozialistischen Länder entstanden.
    Der Lehrer verhaspelte sich und erklärte weitschweifig, daß die Zeit für revolutionäre Umbrüche auch ohne Hitlergekommen wäre … und erzählte wieder etwas von den Gesetzmäßigkeiten …
    »Widersprüche« gab es damals reichlich. Am schlimmsten waren die »antagonistischen« – die existierten massenhaft in den kapitalistischen Staaten, die sie natürlich allesamt nie würden lösen können. Der größte Widerspruch jedoch war der zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Unlösbar!
    Irgendwie hatte der Lehrer auch recht. Einer von beiden mußte schließlich weichen. Allerdings hatte mein Lehrer den anderen gemeint.
    Immer wieder wurde uns gesagt, daß der Widerspruch im Sozialismus eine Triebkraft ist, also etwas, das ihn voranbringt. Im Alltag war davon jedoch nichts zu bemerken, denn man vermied tunlichst, in den Medien oder in der Öffentlichkeit von Widersprüchen zu reden. Sie waren im Sozialismus also nur theoretisch bzw. heimlich eine Triebkraft, praktisch sah man sie überhaupt nicht gern. Die bevorzugte Lösungsvariante der Partei für Widersprüche war das Verschweigen. Sie zu thematisieren – das blieb bis zum Ende der DDR weitestgehend den Schriftstellern und Künstlern vorbehalten. Wenn auch nicht alle Werke die ostdeutsche Öffentlichkeit erreichten.
    Als wir nach zwei Jahren eifriger Büffelei das

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