Mauer, Jeans und Prager Frühling
anderswo in der DDR, zum Beispiel an der Ostsee. Sätze wie »Ich seh das Erste mit viel Gries!« kann ein junger Mensch heute gar nicht mehr entschlüsseln. Dabei meinte der Sprecher doch nur, daß Störungen die Bildqualität beeinträchtigten; es schien, als rieselten unentwegt Schneeflocken über den Schirm. In Gegenden, in denen das Westfernsehen nicht empfangen werden konnte, schauten sich die Leute tatsächlich Karl-Eduard von Schnitzlers »Schwarzen Kanal« an, weil darin Ausschnitte von westdeutschen Fernsehsendungen gezeigt wurden.
Als die Zahl der sogenannten Republikflüchtigen, also jener Menschen, die unentwegt vom Westen »abgeworben« wurden, dramatisch zunahm, sah die SED die Bundesrepublik immer mehr als feindliche Macht an. Um sich eine Vorstellung zu machen, wie damals der Westen von der DDR-Spitze gesehen wurde, ein Beispiel aus Meyers Lexikon: »Fortschrittliche Kräfte in West-D. kämpfen unter Führung der illegal arbeitenden KPD und mit Unterstützung der DDR gegen die klerikal-militaristische Herrschaft und für die Schaffung einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung in West-D.« Westliche Einflüsse mußten also aus Sicht der SED-Funktionäre unterbunden werden.
Als die Mauer stand, konnte man energischer mit der DDR-Bevölkerung umgehen und den Westantennen zu Leibe rücken. So stieg Ende August 1961 in Städten und Gemeinden die FDJ auf die Dächer, nicht etwa, um die desolaten Flächen zu flicken, sondern um den Klassenfeind nicht mehr ins Wohnzimmer zu lassen. Im Blauhemd stürmten FDJ-Radikale die Höhen der Unkultur, sägten oder rissen die Antennen ab, beschädigten dabei die mühsam instand gehaltenen Dächer. Es soll auch zu einigen Rangeleien gekommen sein. Ich hörte von einem Mann, der gar androhte, seine Antenne zum Schutz unter Strom zu setzen …
In Zwickau gab es einen bekannten Augenarzt, Dr. Zetzsche, der noch als Rentner praktizierte. Auch auf das Dach seines Hauses in Weißenborn kletterten die sächsischen Kulturrevolutionäre. Der Doktor rief im Rathaus an und sagte in schlichten Worten, daß man seine Fernsehantenne abgerissen hätte, und wenn diese nicht unverzüglich am alten Platze montiert würde, bliebe am nächsten Tag seine Praxis geschlossen.
So schnell wurde in der DDR noch nie eine West-Antenne installiert.
Vorsichtige, ängstliche oder aus Berufsgründen gehemmte DDR-Bürger versuchten halbherzige Varianten und verbargen die Antenne nun unter dem Dach. Dies schmälerte aber die Empfangsqualität.
Zwar hatten die Funktionäre mit ihrem Willen zur Abschottung keinen Erfolg, doch bis zu den genehmigten Gemeinschaftsantennen für Ost- und Westempfang war es noch ein weiter Weg; und wenn man eine Mauer gegen Radio- und Fernsehwellen hätte bauen können, die Partei hätte sie hochgezogen!
Das Abitur
Wie viele, die aus christlichen Vorbehalten nicht an der Jugendweihe teilgenommen hatten und denen deshalb in jenen Jahren die Oberschule zumeist verschlossen blieb, nutzte auch ich die Chance, mein Abitur an der Abendoberschule abzulegen. Ich besuchte den Unterricht in der Zwickauer Käthe-Kollwitz-Schule. Dort residierte am Abend die Volkshochschule »Martin Andersen Nexö«. Als ich 1962 mit dem 11. Schuljahr begann, war gerade die Zeit des sogenannten »Produktionsaufgebotes« angebrochen. Eigentlich erläßt ja das Gericht ein Aufgebot, also eine Aufforderung zur Meldung an die Nachlaßgläubiger. Zweifelten die Schöpfer der Kampagne vielleicht am Fortbestand des Landes? Sie haben das Eigentor gar nicht wahrgenommen. Auch war es, wie wir alle wissen, längst noch nicht das letzte Aufgebot des Landes; um den Nachlaß der DDR würfelte 38 Jahre später so manche treue Hand … Für uns bedeutete die ausgerufene Kampagne, daß der vormittägliche Sonnabend-Unterricht (an diesem Wochentag wurde ja im Land noch gearbeitet, und wir wären dann freigestellt worden) gestrichen war. Wir hatten folglich an drei Abenden in der Woche jeweils fünf Stunden Unterricht. Bei der körperlich oft anstrengenden Gärtnerarbeit war das mitunter ganz schön hart. Lähmende Müdigkeit umfing mich in mancher Stunde, und Cosinus oder Sinus an der Wandtafel verschwammen zu weißen Krakeln. Nun hatte ich im Fach Mathematik sowieso größte Probleme. Man hätte mir auch die Tafel mit chinesischen Schriftzeichen vollmalen können – mein Verständnis wäre auf einem ähnlichen Pegel gewesen.
Kurioserweise hieß unser Mathelehrer Fröhlich. Was er bot, war für mich alles
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