Mauer, Jeans und Prager Frühling
Abiturzeugnis erhielten, staunte ich schon, daß alle Schüler die Prüfungen bestanden hatten. Zur Feier im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft hatte einer eine Tafel gebastelt. Nach dem damals in den Betrieben verbreiteten Motto »Unsere Besten« waren darauf die fünf mit den meisten Fehlstunden aufgelistet. Der Spitzenreiter hatte es in zwei Jahren tatsächlich auf über zweihundert gebracht! Und trotzdem das Abi bestanden – ein Genie!
Erstaunlich, daß man nie wieder von ihm gehört hat.
Tanzen
In jungen Jahren tanzte ich für mein Leben gern. Es war der einzige Sport, den ich wöchentlich betrieb. Ohne je eine Tanzstunde besucht zu haben. Das Gefühl für Rhythmus war mir geschenkt und die entsprechende Kondition vorhanden. Sie war bei Rock ’n’ Roll und Twist auch nötig. Ich entsinne mich an wildes »Herumgehotte« in einem Tanzsaal, wie durch schräge Sprünge allmählich das Schuhwerk Schaden nahm und sich ein Absatz dreimal löste, aber immer wieder mit einem kräftigen Tritt an seine Stelle »geschlagen« wurde.
Freitags ging es in Zwickau ins »Ringcafé«. Dort spielte das Orchester »Charly«. Dieses schöne Tanzcafé und Restaurant aus den dreißiger Jahren hat die HO später umgebaut und mit sicherem Instinkt kaputtrenoviert.
In die holzgetäfelte Wand an der Treppe, die in den ersten Stock führte, war auf halber Höhe ein Aquarium eingelassen, eine Mode, die lange vor dem Krieg in deutschen Gaststätten sehr verbreitet gewesen war. Auch mein Lieblingscafé Fiedler und das Theater-Café hatten solch ein in die Wand eingelassenes Fischglas.
Die jungen Damen kamen damals noch mit einem Netz zum Tanz. Aber nicht, um Fische aus dem Aquarium zu fangen, sondern um darin – oder in einem Beutel – ihre »Hochhaggschen« zu transportieren. Für Nichtsachsen sei erklärt, daß sich hinter diesem Wort Stöckelschuhe verbergen. Sie waren für den mitunter langen Anmarsch kein bequemes Schuhwerk.
Die beliebtesten Tänze waren damals Rock ’n’ Roll und Cha-Cha-Cha und – wie zu jeder Zeit – die berühmten Schmusetitel.
Dann kam der Twist. Er wurde in einem New YorkerNachtclub geboren, eine Mischung aus Hawai-Hula und einem afrikanischen Ritualtanz. Bei den Sittenwächtern der DDR war es Nichtliebe auf den ersten Blick. Als sie die Tanzenden sahen, stellten sich ihnen die ideologischen Nackenhaare auf. Im Viervierteltakt drehten, wanden, schlingerten und verrenkten wir uns und gingen dabei in die Knie. Der absolute Hit war »Let’s twist again« von Chubby Checker.
Das »Neue Deutschland« nahm zur Beurteilung dieses Tanzes sogar auf Friedrich Engels Bezug und sprach von »der Umkehr des Prozesses der Menschwerdung des Affen«.
Mein Gott, haben die immer alles schrecklich ernst genommen!
Klubhäuser mit ihrem Massenbetrieb schätzte ich weniger. Ich mochte es gern etwas individueller. So war ich in meiner Heimatstadt Zwickau nicht in der »Linde«, in der »Grubenlampe«, im »Sachsenring« oder im »Mohr«, der eigentlich »Amorsaal« hieß. In diesen Sälen gab es immer mal eine ordentliche »Globberei«, und das war gar nicht mein Ding.
Verrufen war das »Penzler«, vor dem Krieg eine der feinsten Adressen, ein gutbürgerliches Lokal, von dem meine Mutter noch schwärmte. Nun war es zum Inbegriff der neuen Kulturlosigkeit geworden, für die manche – allerdings tunlichst nicht in der Öffentlichkeit – den Begriff »Russifizierung« verwendeten.
Im »Penzler« sorgte die massive Nutzung durch die »Wismuter« dafür, daß es in jenen Wild-Ost-Zeiten nach dem Krieg zur Revolverdiele verkam. Wie in der Gaststätte Zum Römer konnte man hier auf Talons speisen. 1957 wurde es dann »Bergarbeiter-Casino«. So mancher Abend endete mit Auseinandersetzungen zwischen Bergleuten und »Wismutern«, denn da stießen Menschen mit Disziplin, Tradition und Berufsehre oftmals auf Abenteurer. Die »Wismuter« waren eine bunt zusammengewürfelte Truppe, nicht wenige ähnelten Desperados aus Wild-West-Goldwäscherzeiten. NVA-Angehörige durften die Tanzgaststätte nichtbetreten, damit sie nicht in schlechte Gesellschaft gerieten, Entlassene des Strafvollzugs ebenfalls nicht, damit sie solche Bekanntschaften nicht wieder auffrischten.
Ebenfalls verschrien war das legendäre »Muldenschloß«, rechts der Mulde nach der Pölbitzer Brücke, im Volksmund »Schlößchen« oder »Muldendampfer« genannt. Dort, so wurde immer wieder gemunkelt, wären Damen gegen entsprechendes Entgelt zu
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