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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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einiger Gäste laut fragte: »War Hitler schon da?«
    »Hitler« war ein stiller, meist ernst dreinschauender Mann. Er hatte großen Erfolg bei Frauen, die in ihm etwas Geheimnisvolles und Verruchtes vermuteten, die vielleicht auch ein wohliger Schauer durchströmte, wenn er sie mit durchdringendem Blick anschaute. Ein Hauch von Rasputin wehte da durch den Raum.
    Fritz-Jochen Kopka meinte allerdings, dieses besondere magische Lächeln wäre nur zustande gekommen, weil ihm an der Seite Zähne fehlten, deswegen habe er nie richtig gelacht.
    Ein anderer besonderer »Corso«-Typ war »Kafka«. Ein gutaussehender, introvertierter Mensch, der an einer Gehbehinderung litt. Er hatte wohl mehrmals in Diskussionen sehr engagiert für den deutsch-jüdischen Schriftsteller aus Prag gestritten, so war dieser Spitzname an ihm klebengeblieben. Und es konnte durchaus passieren, daß im Café Corso »Hitler« und »Kafka« an einem Tisch miteinander ins Gespräch kamen oder sich mit Studentinnen und Studenten des Literaturinstituts stritten. Die diskutierten sowieso lieber an den »Corso«-Tischen als in den Seminaren. In den Sechzigern wehte bekanntlich ein rauher kulturpolitischer Wind durch jenes Haus in der Tauchnitzstraße. Exmatrikulationen kamen dort in Mode, und so mußten Andreas Reimann, Kurt Bartsch, Paul Gratzik, Odwin Quast, Siegmar Faust, Gert Neumann, Martin Stade, Helga M. Novak, Gerti Tetzner, Klaus Bourquain, Heidemarie Härtl und Dieter Mucke das Institut verlassen.
    Auch Christa und Gerhard Wolf, Uwe Johnson, Reiner Kunze, Volker Braun und Christoph Hein haben als Studenten im »Corso« gesessen. Und Schriftsteller wie Erich Loest, Gerhard Zwerenz, Werner Bräunig und Helmut Richter schätzten die Atmosphäre im ersten Stock ebenfalls sehr.
    Liebenswerte Spinner verkehrten im Café Corso ebenso wie solche, die sich »als Künstler« gaben.
    Natürlich ging dieser und jener Genosse auch dorthin, andere mieden das Haus, weil es als anrüchig galt. Undwenn jemand an der Uni politisch in Mißkredit geriet, konnte es sein, daß man ihm sagte: »Außerdem wissen wir, daß Sie auch im ›Corso‹ verkehren.« Damit war alles klar. Wer da saß, hatte schlechten Umgang.
    Irgendwann wurde aus einem Gerücht Wahrheit: Die Stadtverwaltung plante, das Gebäude abzureißen. Man wollte einen Hort der Konterrevolution beseitigen.
    Der Grafiker Rolf Zimmermann wurde vom Inhaber Werner Fischer eines Tages angesprochen, ob man nicht zur Schließung des Kaffeehauses etwas machen könnte. Als Text nannte er ihm:
    »Wir fliegen in die Luft, und wann Neueröffnung – das wissen die Götter!«
    Rolf Zimmermann malte ein Aquarell mit einem fliegenden Haus; dieses Plakat wurde ins Fenster gehängt. Die Behörden erfuhren davon und betrachteten das als eine unglaubliche Provokation. Ein Vermerk aus den Stasi-Akten dazu: »10.2.68 Z. brachte im Café ›Corso‹ ein Plakat an, welches sich in verächtlicher Form gegen die Baumaßnahmen im Stadtzentrum richtet. Das Plakat hatte eine Größe von ca. 1,20 m.«
    Drei Herren betraten wenig später das Café, bewaffnet mit einer Schere: schnipp, schnapp, und das Plakat war ab. Unmittelbar danach wurden Herr Fischer und Rolf Zimmermann vorgeladen und befragt, was sie sich wohl dabei gedacht hatten!
    Das »Corso« mußte verschwinden. So ereilte es 1968 das gleiche Schicksal wie die Universitätskirche.
    Am letzten Tag klauten »Corso«-Fans Geschirr und fetzten die Stoffbespannung ab. Lothar Otto schenkte mir nach fast 35 Jahren ein Stück jenes legendären grün-goldenen Stoffs. Das intakte Haus wurde abgerissen. Vorwand war die weitere Neugestaltung des Stadtzentrums. Das Grundstück wurde aber nie bebaut. Lediglich eine Barackestand bis zum Ende der DDR an jener Stelle. Nach dem Abriß gab es eine kleinere Variante des Café Corso am Neumarkt: müder Abklatsch einstiger Pracht. Immerhin: Tische und Stühle und das Rückbüffet waren mit umgezogen. Auch die Lampen, allerdings der stimmungsvollen Schirme beraubt, die durch gläserne aus DDR-Produktion ersetzt worden waren. Nach dem Herbst ’89 mußte das Café wegen Rekonstruktion des Gebäudekomplexes wieder umziehen, man ließ sich von einem westdeutschen Gestalter ein »schickes« Interieur einreden, mit einem metallenen Geländer um eine Stahlträger-Galerie, was dann wie eine Filiale des VEB GISAG Werk III anmutete. Die Unternehmung ging in Konkurs und harrt der Auferstehung. Leipzig ohne das »›Corso‹ in der Stadt« – da fehlt vielen

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