Mauer, Jeans und Prager Frühling
erzählt: »Mittags nach Sopot, bei herrlichem Wetter am Strand des größten Ostseeluxusbadeortes. Europa gibt sich ein Stelldichein. Weltatmosphäre.« Wir hatten kein vergleichbares internationales Leben, und so mußte uns das imponieren.
Wodurch waren diese Eindrücke noch zu übertreffen?
»Abends das große Filmerlebnis: Winnetou.«
Danzig hat uns unheimlich gut gefallen. Das Streben, das zerstörte Stadtzentrum im alten Stil wieder aufzubauen, mußten die Polen allerdings teuer bezahlen. Sie haben sich mit diesem Willen, auch in der Altstadt von Warschau und anderen Orten, finanziell übernommen.
In jenen Augusttagen sahen wir vom Ufer aus ein gestrandetes Schiff. War es auf eine Sandbank gelaufen? Wir erfuhren, daß es aus gutem Grund dort lag. Dreharbeiten. Am Strand lernten wir den westdeutschen Aufnahmeleiter einer Filmgesellschaft kennen. Sie verfilmten vor Ort und auf dem Wasser das Günter-Grass-Buch »Katz und Maus«.
Das war natürlich für uns Literaturfreunde, die wir das West-Taschenbuch gelesen hatten, ein besonderes Erlebnis. Zumal wir erfuhren, daß die beiden Brandt-Söhne und Wolfgang Neuss im Film mitspielten. Auch Ingrid van Bergen, der wir im Grand Hotel Sopot hinterhergeschaut hatten. Nun, nach 35 Jahren, hab ich den Film tatsächlich einmal zu später Stunde – wann werden sonst solche Literaturverfilmungen im Fernsehen gezeigt – gesehen. Und wenn die Kamera vom Schiff zum Strand geschwenkt wäre, dann hätte ich mich im Glanz meiner ganzen kernigen Jugendlichkeit bewundern können!
Siegfried berichtete uns am Abend, daß er ein paar Leute am Strand angesprochen hatte, die den »Spiegel« lasen. Mit einem unterhielt er sich länger. Das war Peter Brandt, der sich in einer Drehpause entspannte. Er war der ältere von den beiden Brandt-Söhnen, die im Wechsel eine Rollespielten, als jüngerer Lars, als älterer Peter. Siegfried fragte, was der Vater zu ihrer Filmarbeit sage. Er habe sich nicht groß darum gekümmert, habe sie nur gebeten, darauf zu achten, daß es nicht zu irgendwelchen Belastungen kommt.
Die berühmte Onanier-Stelle im Buch interessierte Willy Brandt garantiert weniger als etwaige politische Verwicklungen mit dem damals noch sensiblen Thema »Deutsche in Polen«.
Siegfried ist übrigens nach der Wende durch seine Arbeit an der Universität Leipzig wieder mit diesem Sohn von Brandt in Kontakt gekommen. Peter Brandt ist Historiker, hat – was Wunder! – über die Geschichte der Sozialdemokratie gearbeitet und lehrt als Professor in Hagen.
Als ich die schönen Bürgerhäuser der Danziger Altstadt zum ersten Mal gesehen hatte, wünschte ich mir, die romantischen Gassen mit einer hübschen Polin an meiner Seite zu durchstreifen. Auch dieser Wunsch ging in Erfüllung, ich verabredete mich für den frühen Abend mit einer Krystyna am Neptunbrunnen. Da ich tagsüber ebenfalls mit einer Krystyna unter azurblauem Himmel am Strand entlangspazierte, schien mir, daß alle Polinnen Krystyna heißen … bis auf die, die Ewa heißen …
Mit der schöneren Krystyna saß ich abends beim Wermut. Als ich sie bitte, ein Transparent zu übersetzen, sagt sie mir: »Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht!« Und sie fügt auch gleich in gebrochenem Deutsch hinzu, daß sie den Text nicht gut findet. Als junger Deutscher weiß ich natürlich, was mit dieser Aussage gemeint ist. Und dann lenkt sie mich ab und meint, wir sollten ins »Szak« zum Tanz im Freien gehen.
Am nächsten Tag begrüße ich sie am Neptunbrunnen nach polnischer Sitte mit Handkuß. Es ist unser Abschiedstag, wir streifen durch die Stadt, sitzen in einem Park. Sie faßt eine Brennessel an und sagt: »Heiß!« Wie soll man da nicht sentimental werden, wenn sie mir mitten im schönsten Sonnenuntergang sagt: »Lutz – wie die Abend ist kikommen.«Vor lauter Aufregung hat sie das Ganze gleich hundert Jahre zurückverlegt und den Satz auf einen Zettel mit der Jahresangabe 1866 geschrieben. Und Krystyna zog auch sofort Bilanz für den nächsten Tag: »Morgen – die Abend ist kikommen, aber Lutz nje.«
Und so war’s dann leider.
»Ich die Nacht denken an dich.«
Es ging weiter nach Warschau, in die Hauptstadt der 30 Millionen Polen. 85 Prozent der Bevölkerung sind katholisch. Ich mochte kaum glauben, daß ein Ostblockland das katholischste der Welt sein soll. Wir saßen im Hotel Europa, im gleichnamigen Haus in Prag war ich auch schon gewesen, und ich grübelte, ob es irgendwo in der DDR ein Hotel mit diesem Namen
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