Max Weber (German Edition)
kulturwissenschaftlichen Forschung: Er liege in einem steten Um- und Neubildungsprozess der wissenschaftlichen Begriffe, d.h. der «Idealtypen», mit denen die unerschöpfliche Wirklichkeit erfasst werden soll. «Die Geschichte der Wissenschaften vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich zu ordnen […] und der Neubildung von Begriffen […] Nicht etwa das Fehlerhafte des Versuchs, Begriffssysteme überhaupt zu bilden, spricht sich darin aus […], sondern der Umstand kommt darin zum Ausdruck, daß in den Wissenschaften von der menschlichen Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst. Das Verhältnis von Begriff und Begriffenem in den Kulturwissenschaften bringt die Vergänglichkeit jeder solchen Synthese mit sich.»
Die Betonung der intersubjektiven Gebundenheit und Kontrolliertheit (sozial-)wissenschaftlicher Forschung und die Postulierung einer Akkumulation von begrifflichem Wissen ändern nach Weber daher nichts an der grundsätzlichen Vergänglichkeit und Wandelbarkeit aller (sozial-)wissenschaftlichen «Erkenntnis». Jahrzehnte vor der Formulierung des wissenschaftssoziologischen Konzeptes vom «Paradigmenwechsel» erkannte er die grundsätzliche Bedeutung der Verankerung von Wissen an «Wertideen» und «Erkenntnisinteressen» und deren permanente «Revolutionierung»: «Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken.»
VI Wider die Vermengung von Wissenschaft und Werturteilen. Die «Wert(Urteils)Freiheit»
Nach der Jahrhundertwende und den Aufsätzen zur Kulturbedeutung des Protestantismus und den damit unmittelbar verbundenen methodologischen Überlegungen nahm die Ein-Mann-Wissenschaftsmaschine Max Weber eine Vielzahl von Themen in Angriff: eine Analyse der revolutionären Veränderungsprozesse im zaristischen Russland der Jahre 1905 bis 1907, Beiträge zu Diskussionen über die Hochschulpolitik im Deutschen Reich, Schriften Zur Psychophysik der Arbeit, einen umfangreichen Aufsatz, der postum als Musiksoziologie publiziert wurde, und eine Erweiterung seiner umfangreichen Manuskripte über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Neben seiner intensiven Tätigkeit als «Schriftleiter» des Grundriß der Sozialökonomik ist sein verbandspolitisches Engagement im Verein für Socialpolitik, auf den Deutschen Hochschullehrertagen und in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu erwähnen. Von dem nicht unerheblichen Schrifttum, das sich aus allen diesen Themen entwickelte, wird hier allein auf jene Texte eingegangen, die bis heute mit jenem Stichwort verbunden werden, das mit Webers grundsätzlicher wissenschaftstheoretischer Position verbunden ist: die «Wertfreiheit» bzw. die «Werturteilsfreiheit» der (Sozial-)Wissenschaft.
Die vielfältigen Probleme, um die unter diesen Stichworten gerungen wurde, beziehen sich nicht nur auf einzelne Wissenschaften, sondern auf die Grundbestimmung jedes wissenschaftlichen Erkennens. Die einschlägigen Arbeiten Max Webers – vor allem sein bereits behandelter Aufsatz über Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), dazu Der Sinn der «Wertfreiheit» der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) und der Text seiner Rede Wissenschaft als Beruf (1919) – zählen mit zu den ausschlaggebenden Bezugspunkten für die bis heute anhaltenden Diskussionen. Boten schon die Rezeption der Protestantischen Ethik und der damit verknüpften Konzepte des «Verstehens» und des «idealtypischen Vorgehens» häufig genug Anlass für Missverständnisse, so erfuhr die Weber’ sche Forderung nach «Wert(urteils)freiheit» wohl die wirkungsvollste Verzerrung. Für ein umfassendes und zutreffendes Verständnis der Position Webers ist die Einordnung in komplexe Zusammenhänge erforderlich.
Für den philosophischen Hintergrund seines Anliegens ist eine tief greifende Krise im geschichtlichen und gesellschaftlichen Bewusstsein Europas vor dem Ersten Weltkrieg von Bedeutung, die abgekürzt als «Krise des Historismus» bezeichnet
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