Max Weber (German Edition)
wird. Trotz erheblicher inhaltlicher Differenzen unter den Hauptteilnehmern an den damaligen Auseinandersetzungen – vor allem Hermann Cohen, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Max Weber, Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke – gab es einen gemeinsamen Nenner: die Kritik am Positivismus. Durch die verschiedensten Destruktionen am positivistischen Menschen- und Weltbild – etwa durch Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Charles Baudelaire, Fjodor Dostojewskij und Marcel Proust – wurde die Fiktion einer rational geordneten Welt zunehmend mehr in Zweifel gezogen. Aus dieser häufig in Kulturkritik und Kulturpessimismus umschlagenden Sichtweise ergab sich die Frage, ob eine Geschichts wissenschaft oder eine Gesellschafts wissenschaft überhaupt möglich sei. Einige Historiker und Soziologen neigten der Auffassung zu, dass die historischen Zufälligkeiten und die menschliche Subjektivität beides unmöglich mache. Gegen diese Position richteten sich jene Bestrebungen einiger Teilnehmer an diesen Diskussionen, die an einen «Sinn der Geschichte» glaubten. Gerade um einen absoluten, alle Bereiche erfassenden Relativismus abwehren zu können, bemühten sich vor allem Dilthey, Windelband, Rickert, Meinecke und Troeltsch um eine Überprüfung der methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft.
Den theoretischen Hintergrund bildete die als «Methodenstreit» bekannt gewordene und mit den beiden Namen Gustav von Schmoller und Carl Menger eng verknüpfte Debatte um die Ausrichtung der deutschen Volkswirtschaftslehre. In seiner Arbeit Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere (1883) unterschied Menger drei Gruppen von Wissenschaften: historische, theoretische und praktische. Die historischen Disziplinen seien auf die Erkenntnis des Individuellen, die theoretischen auf die Erkenntnis des Generellen der Erscheinungen gerichtet, und die praktischen befassten sich mit dem, was sein soll, mit dem, was man tun muss, um bestimmte Ziele zu erreichen. In der «theoretischen» Forschungsrichtung, der Menger sich selbst zurechnete, unterschied er wiederum zwei Varianten voneinander: die «empirisch-realistische Richtung», welche «Realtypen» feststellen will, und eine «exakte Richtung», die strenge Gesetze, vergleichbar den Naturgesetzen, aufstellen will.
Gustav von Schmoller antwortete noch im gleichen Jahr mit einem Artikel Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, worin er den Eigenwert des «beschreibenden Verfahrens» betonte, weil mithilfe des «deskriptiven Erfahrungsmaterials aller Art die Klassifizierung der Erscheinungen, die Begriffsbildung verbessert, die typischen Erscheinungsreihen und ihr Zusammenhang, die Ursachen in ihrem ganzen Umfang klarer erkannt werden». Der Fortschritt der Wissenschaft liege nicht in einer weiteren «Destillation» bereits wiederholt untersuchter Sätze, und wer von Hypothesen ausgehe, erhalte nur hypothetische Sätze, denen man durch das Adjektiv «exakt» den Schein strenger Wissenschaftlichkeit verleihen wolle. Carl Menger fühlte sich durch von Schmoller auch persönlich angegriffen und antwortete in heftiger Weise. Es kam zu einer – angesichts der zeitgenössischen Kontroversen zwischen «Positivismus» und «Historismus» und zwischen Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften vielleicht erzwungenen – Polarisierung der Debatte, obwohl Menger selbst eigentlich eine vermittelnde Position vorgeschlagen hatte, die auf eine Anerkennung beider Richtungen, der theoretischen und der historischen, hinauslief.
Max Weber, der sich mit diesem «Methodenstreit» intensiv auseinandersetzte, wollte die Kontroverse aus dem rein nationalökonomischen Problembezug lösen und sie zudem mit dem als philosophischem Hintergrund bezeichneten Diskussionszusammenhang in Verbindung setzen. Vor allem der Streit über das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften beeinflusste Max Weber in hohem Maß und führte ihn zur Formulierung seines eigenen Konzeptes einer «Wirklichkeitswissenschaft». Sowohl der genannte philosophische als auch der angedeutete theoretische Hintergrund des Weber’schen Verständnisses von Wissenschaft bezog sich auf Diskussionen, die größtenteils literarisch ausgetragen wurden. Jene Auseinandersetzung, die als eigentlicher «Werturteilsstreit» bezeichnet wurde und wird, hatte jedoch zudem organisatorische Bühnen, auf
Weitere Kostenlose Bücher