Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
kann. Was Manuel sagt, ist nicht immer nur öde; auf seinem Fachgebietkann er für eine kurze Weile recht unterhaltsam sein. Er erzählt den Besuchern etwas über die Geschichte, die Legenden und die Lebensgewohnheiten von Chiloé und erklärt ihnen, die Inselbewohner seien zurückhaltend, man müsse ihnen Zeit geben und sie mit Respekt für sich gewinnen, wie man sich auch Zeit nehmen und sich mit Respekt an die raue Natur hier gewöhnen müsse, an die langen Winter, die Launen der See. Langsam. Sehr langsam. Chiloé ist nichts für Menschen, die es eilig haben.
Die Leute besuchen Chiloé, weil sie meinen, hier sei die Zeit stehen geblieben, und werden von den Städten auf der Isla Grande enttäuscht, aber bei uns finden sie, was sie suchen. Wir wollen niemandem etwas vormachen, Gott bewahre, aber am Curanto-Tag tauchen schon mal unversehens Ochsen und Lämmer in den Dünen auf, es liegen mehr Boote und Netze als sonst zum Trocknen am Strand, die Leute tragen ihre rustikalsten Mützen und Ponchos, und niemand käme auf die Idee, in der Öffentlichkeit sein Handy zu zücken.
Die erfahrenen Köche wussten genau, wann die kulinarischen Schätze gehoben werden konnten, und schippten den Sand beiseite, entfernten vorsichtig den Sack, die Blätter und die Tücher, und eine Wolke köstlichster Düfte stieg uns in die Nase. Erst erwartungsvolle Stille, dann großer Applaus. Die Frauen verteilten die Portionen auf Papptellern, und dazu gab es wieder Pisco Sour, das chilenische Nationalgetränk, das einen Kosaken aus den Stiefeln heben kann. Am Ende mussten wir etliche Besucher auf dem Weg zu den Booten stützen.
Meinem Pop hätte das Leben hier gefallen, die Landschaft, die Fülle an Meeresgetier, das gemächliche Verstreichen der Zeit. Er hat nie von Chiloé gehört, sonst hätte er es auf seine Liste der Orte geschrieben, die man sehen muss, bevor man stirbt. Mein Pop … Er fehlt mir so! Er war eingroßer, starker, bedächtiger und sanfter Bär, war warm wie ein Ofen, duftete nach Tabak und Kölnisch Wasser, besaß eine dunkle Stimme, ein erdentiefes Lachen und mächtige Hände, mit denen er mich hielt. Er ging mit mir zum Fußball und in die Oper, beantwortete meine endlosen Fragen, kämmte mir die Haare und freute sich über meine ermüdend langen Gedichte, die von den Kurosawa-Filmen inspiriert waren, die wir zusammen sahen. Wir stiegen auf den Ausguck am Haus, suchten mit seinem Teleskop die schwarze Himmelskuppel nach seinem scheuen Planeten ab, einem grünen Gestirn, das wir nie finden konnten. »Versprich mir, dass du dich immer so liebhaben wirst, wie ich dich liebhabe, Maya«, sagte er oft zu mir, und ich versprach es, ohne zu begreifen, was er mir mit diesem seltsamen Satz sagen wollte. Er hatte mich bedingungslos lieb, nahm mich, wie ich bin, mit meinen Begrenztheiten, meinen Ticks und Fehlern, zollte mir Anerkennung, auch wenn ich sie nicht verdiente, ganz anders als meine Nini, die meint, man solle die Bemühungen der Kinder nicht über den grünen Klee loben, sonst gewöhnten sie sich daran und nachher gehe es ihnen im Leben dreckig, weil niemand sie mehr lobt. Mein Pop verzieh mir alles, tröstete mich, lachte, wenn ich lachte, war mein bester Freund, mein Verbündeter und Vertrauter, ich war seine einzige Enkelin und die Tochter, die er nie gehabt hat. »Sag mir, dass ich dir von allen deinen Lieben die liebste bin, Pop«, bat ich ihn, um meine Nini zu ärgern. »Du bist uns die liebste, Maya«, antwortete er diplomatisch, aber ich war seine Nummer eins, das weiß ich genau; meine Großmutter hatte keine Chance gegen mich. Mein Pop war nicht in der Lage, sich selbst etwas zum Anziehen auszusuchen, das tat meine Nini für ihn, aber als ich dreizehn wurde, ging er mit mir meinen ersten BH kaufen, weil er mitbekam, dass ich mir die Brüste mit einem Schal abband und die Schultern nach vorn zog, um sie zu verbergen. Mit meiner Nini oder mit Susan darüber zu reden wäre mirpeinlich gewesen, dagegen fand ich nichts dabei, BHs vor meinem Großvater anzuprobieren.
Das Haus in Berkeley war meine Welt: Abends mit meinen Großeltern Fernsehserien anschauen, im Sommer sonntags auf der Terrasse frühstücken, manchmal, wenn mein Vater da war, zusammen zu Abend essen, während im Hintergrund Maria Callas auf alten Vinylplatten sang, das Arbeitszimmer, die Bücher, der Duft aus der Küche. In dieser kleinen Familie spielte sich der erste Teil meines Lebens ab, ohne dass es nennenswerte Probleme gegeben hätte, aber
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