Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
als ich sechzehn wurde, brachten die katastrophischen Naturgewalten, wie meine Nini das nennt, mein Blut in Wallung und trübten mir den Verstand.
Ich habe am linken Handgelenk das Jahr eintätowiert, in dem mein Pop starb: 2005. Im Februar erfuhren wir, dass er krank war, im August nahmen wir Abschied von ihm, im September wurde ich sechzehn, und meine Familie zerbröselte.
An dem unvergessenen Tag, als mein Pop zu sterben begann, war ich länger in der Schule geblieben, weil wir mit der Theater-AG Warten auf Godot probten, darunter machte es unsere ambitionierte Lehrerin nicht, und dann war ich zu Fuß zu meinen Großeltern gegangen. Als ich ankam, war es bereits dunkel. Ich ging rufend und auf Lichtschalter drückend hinein, wunderte mich über die Stille und Kühle, denn eigentlich war das die gemütlichste Zeit im Haus, die Räume im Erdgeschoss kuschelig warm, Musik und der Duft aus Ninis Töpfen in der Luft. Ich hätte erwartet, meinen Pop lesend in seinem Sessel im Arbeitszimmer zu finden und meine Nini in der Küche, wo sie um diese Zeit meist die Radionachrichten hörte, aber an diesem Abend war alles anders. Meine Großeltern saßen zusammen auf dem Wohnzimmersofa, das meine Nini nach der Anleitung aus einer Zeitschrift neu bezogen hatte. Sie saßen sehr dichtbeieinander. Beide waren kleiner geworden, und zum ersten Mal bemerkte ich ihr Alter, waren sie doch bis dahin für mich vom Zahn der Zeit unberührt gewesen. Tag für Tag hatte ich mit ihnen verbracht, Jahr für Jahr, und die Veränderungen waren mir entgangen, meine Großeltern unwandelbar und ewig wie die Berge. Ich weiß nicht, ob ich sie bisher allein mit den Augen der Seele gesehen hatte oder sie in diesen Stunden tatsächlich gealtert waren. Ich hatte auch nicht bemerkt, dass mein Großvater in den Monaten zuvor abgenommen hatte, die Kleider an ihm schlotterten und meine Nini an seiner Seite nicht mehr so winzig wirkte wie früher.
»Was ist los, ihr zwei?« Und mein Herz stürzte ins Leere, weil ich es erriet, ehe sie mir antworten konnten. Die unbesiegbare Kriegerin Nidia Vidal, meine Nini, war geschlagen, ihre Augen vom Weinen geschwollen. Mein Pop winkte mich zu sich, legte mir einen Arm um die Schulter, zog mich an seine Brust und sagte, er fühle sich schon seit einer Weile nicht gut, habe Schmerzen im Magen, es seien verschiedene Untersuchungen gemacht worden, und der Arzt habe ihm die Diagnose heute bestätigt. »Was hast du, Pop?«, brach es aus mir heraus wie ein Schrei. »Etwas an der Bauchspeicheldrüse«, sagte er, und das tierhafte Wimmern seiner Frau gab mir zu verstehen, dass es Krebs war.
Gegen neun kam Susan zum Abendessen, wie sie es häufig tat, und fand uns zusammengedrängt und zitternd auf dem Sofa. Sie drehte die Heizung auf, bestellte Pizza, rief meinen Vater in London an, um ihm die schlechte Nachricht mitzuteilen, und dann setzte sie sich zu uns und hielt schweigend die Hand ihres Schwiegervaters.
Meine Nini gab alles auf und kümmerte sich nur noch um ihren Mann: die Bibliothek, die Erzählstunden, die Straßendemos, den Verbrecherclub, den Küchenherd, den sie meine gesamte Kindheit über befeuert hatte und nun ausgehen ließ. Ein hinterhältiger Feind war diese Krankheit,hatte meinen Pop ohne Warnsignale überfallen und sich erst zu erkennen gegeben, als der Kampf schon aussichtslos war. Meine Nini brachte ihn in die Klinik der Georgetown University in Washington zu den besten Spezialisten, aber es half alles nichts. Man sagte ihm, eine Operation sei sinnlos, und er wollte sich nicht einem chemischen Bombardement aussetzen, das sein Leben allenfalls um Monate verlängert hätte. Aus dem Internet und den Büchern, die ich in der Bibliothek auslieh, erfuhr ich, dass in den USA jährlich dreiundvierzigtausend Menschen an dieser Krebsart erkrankten, die Krankheit bei etwa siebenunddreißigtausend tödlich verlief und auch die fünf Prozent, die auf die Behandlung ansprachen, nur eine maximale Lebenserwartung von weiteren fünf Jahren besaßen; also würde nur ein Wunder meinen Großvater retten.
In der Woche, die meine Großeltern in Washington verbrachten, verschlechtere sich der Zustand meines Großvaters so sehr, dass Susan, mein Vater und ich ihn fast nicht erkannten, als wir sie am Flughafen abholten. Er hatte weiter abgenommen, ging gebeugt, zog die Füße nach, seine Augen waren gelb und die Haut stumpf, wie Asche. In kleinen, mühevollen Schrittchen erreichte er schwitzend vor Anstrengung Susans Kombi,
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