Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
dem duftenden Rauch zu »reinigen«, während wir nacheinander durch einen engen Tunnel ins Innere krabbelten.
Die Ruca war eine runde Höhle von etwa vier Metern Durchmesser, an der höchsten Stelle eins siebzig hoch. In der Mitte brannten Holzscheite zwischen heißen Steinen, der Rauch zog über die einzige Öffnung in der Deckenmitte ab, und an den Wänden lief ein mit Wolldecken gepolstertes Podest entlang, auf dem wir im Kreis Platz nahmen. Die Hitze war stark, aber auszuhalten, die Luft roch nach etwas Organischem, nach Pilzen oder Hefe, und nur das Feuer warf ein wenig Licht. In Schalen lag etwas Obst, Aprikosen und Feigen, dazu gab es Mandeln und zwei Kannen mit kaltem Tee.
Die Frauen sahen aus, als wären sie den Geschichten von Tausendundeine Nacht entstiegen, eine Versammlung von Odalisken. Das warme Licht in der Ruca machte sie wunderschön, schwer umrahmte das Haar ihre Gesichter, sie fühlten sich wohl in ihren Körpern, ruhten darin, wirkten hingegeben. In Chile werden die Menschen nach Klassen eingeteilt wie in Indien nach Kasten oder in den USA nach Hautfarbe, und ich habe kein Auge dafür, die Unterschiede zu erkennen, aber diese europäisch aussehenden Frauen müssen einer anderen Klasse angehören als die Frauen von Chiloé, die ich bisher kennengelernt habe und die fast durchweg stämmig sind, klein, mit indianischen Zügen, gezeichnet von Arbeit und Kummer. Eine von ihnen war schwanger, nach der Größe ihres Bauchs zu urteilen im siebten oder achten Monat, und eine andere hatte erst kürzlich entbunden, ihre Brüste waren prall und die Brustwarzen bläulich umrandet. Blanca hatte ihren Haarknoten gelöst, und aufgewühlt wie Gischt ergossen sich ihre Locken bis zu den Schultern. Sie zeigte ihren gealterten Körper mitder Selbstverständlichkeit von jemandem, der immer schön gewesen ist, obwohl sie keine Brüste mehr hat, sondern eine Piratennarbe quer über dem Oberkörper.
Blanca klingelte mit einem Glöckchen, einige Minuten schwiegen alle und sammelten sich, und dann rief eine der Frauen die Pachamama an, die Mutter Erde, in deren Bauch wir zusammengekommen waren. Die nächsten vier Stunden verstrichen langsam, ohne dass wir es merkten, wir reichten ein großes Seeschneckenhaus von Hand zu Hand und sprachen reihum, tranken Tee, aßen von dem Obst und erzählten uns, was gerade in unserem Leben geschah und welchen Kummer wir aus der Vergangenheit mitschleppten, hörten einander respektvoll zu, fragten nicht, gaben keine Urteile ab. Die meisten der Frauen stammen aus anderen Landesteilen, sind wegen der eigenen Arbeit hier oder weil ihre Männer hier zu tun haben. Zwei arbeiten als Heilpraktikerinnen mit verschiedenen Methoden, mit Kräutern, Reflexzonenmassage, Aroma-, Magnet- und Lichttherapie, mit Homöopathie, dem Auflösen von Energieblockaden und anderen alternativen Heilmethoden, die in Chile sehr gefragt sind. Arzneimittel aus der Apotheke werden hier erst genommen, wenn alles andere versagt. Die Frauen erzählten von sich ohne Scham, eine war am Boden zerstört, weil sie herausgefunden hatte, dass ihr Mann ein Verhältnis mit ihrer besten Freundin hatte, eine andere brachte es nicht über sich, einen Mann zu verlassen, der sie körperlich und seelisch misshandelte. Sie redeten von ihren Träumen, Krankheiten, Ängsten und Hoffnungen, sie lachten, manche weinten auch, und alle freuten sich mit Blanca, weil die Nachuntersuchungen bestätigt hatten, dass der Krebs überwunden war. Eine junge Frau, deren Mutter gerade gestorben war, bat darum, für ihre Seele ein Lied zu singen, und eine andere stimmte mit glockenheller Stimme eines an, in das die anderen dann einfielen.
Es war nach Mitternacht, als Blanca vorschlug, unserTreffen mit einer Ehrung der Vorfahren zu beschließen, und dann nannte jede jemanden – die gerade gestorbene Mutter, die Großmutter, eine Patin – und beschrieb, was dieser Mensch ihr vermacht hatte; für die eine war es die künstlerische Ader, für die andere ein Buch mit Mitteln aus der Naturheilkunde, für eine dritte die Liebe zur Wissenschaft, und so sagte jede etwas. Ich war als Letzte an der Reihe und nannte meinen Pop, bekam aber keinen Ton heraus, um den Frauen zu sagen, wer das war. Danach meditierten wir schweigend mit geschlossenen Augen, dachten an den Toten, den wir uns in Erinnerung gerufen hatten, dankten ihm für das, was er uns gegeben hatte, und verabschiedeten uns von ihm. Dabei kam mir der Satz in den Sinn, den mein Pop über Jahre
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