Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
immer wieder zu mir gesagt hatte: »Versprich mir, dass du dich immer so liebhaben wirst, wie ich dich liebhabe.« Ich hörte es so deutlich, als würde er es mir gerade eben mit lauter Stimme sagen. Ich musste weinen und weinte das Meer von Tränen, die ich nicht vergossen hatte, als er starb.
Zum Schluss ließen sie eine Holzschale herumgehen, und jede konnte ein Steinchen hineinlegen. Blanca zählte nach, und es waren so viele Steinchen wie Frauen in der Ruca; das war eine Wahl, und ich damit einstimmig angenommen, nur so kann man Teil der Gruppe werden. Sie beglückwünschten mich, und wir stießen mit Tee an.
Ich kehrte stolz auf unsere Insel zurück und ließ Manuel wissen, dass er ab jetzt in Vollmondnächten auf mich verzichten muss.
Nach dem Abend mit den guten Hexen von Castro habe ich viel über meine Erfahrungen vom letzten Jahr nachgedacht. Mein Leben ist so grundverschieden vom Leben dieser Frauen, und ich weiß nicht, ob ich ihnen in der Ruca je werde erzählen können, was mir passiert ist, ob ich ihnen den Zorn schildern kann, der mich früher auffraß, ihnenbegreiflich machen kann, wie es ist, wenn man unbedingt Alkohol oder Drogen braucht, nicht stillsitzen kann, ständig reden muss. Im Internat in Oregon attestierten sie mir ein »Aufmerksamkeitsdefizit«, was als Diagnose so endgültig klingt wie »lebenslänglich«, aber als mein Pop noch lebte, machte sich das so wenig bemerkbar wie hier. Ich kann die Symptome der Sucht beschreiben, ihre brutale Macht aber nicht mehr nachempfinden. Wo war meine Seele in dieser Zeit? In Las Vegas gab es Bäume, Sonne, Parks, das Lachen von Freddy, King of Rap, es gab Eiscreme, Comedy im Fernsehen, sonnengebräunte junge Leute und Limonade am Pool im Club, Musik und Lichter in den langen Nächten auf dem Strip, es gab fröhliche Momente, sogar eine Hochzeit bei Leemans Freunden und eine Geburtstagstorte für Freddy, aber ich erinnere mich nur an das flüchtige Glück, wenn ich mir einen Schuss gesetzt hatte, und an die endlose Hölle auf der Suche nach dem nächsten. Wie ich damals gelebt habe, verschwimmt schon in meiner Erinnerung, obwohl seither erst wenige Monate vergangen sind.
Die Zeremonie mit den Frauen im Bauch der Pachamama hat mich endgültig mit dem zauberischen Chiloé verbunden und auf geheimnisvolle Weise auch mit meinem eigenen Körper. Im vergangenen Jahr war ich wie aufgerieben, ich dachte, mein Leben sei verbraucht und mein Körper für immer besudelt. Jetzt fühle ich mich heil, empfinde mir gegenüber einen Respekt, den ich nie zuvor hatte, und suche vor dem Spiegel nicht mehr nach Mängeln. Ich gefalle mir, wie ich bin, ich möchte nichts ändern. Auf dieser segensreichen Insel finden meine bösen Erinnerungen keine Nahrung, dennoch überwinde ich mich und schreibe alles auf, damit es mir nicht ergeht wie Manuel, der seine Erfahrungen in eine Höhle gesperrt hat, und wenn er sich nicht vorsieht, fallen sie ihn an wie tollwütige Hunde.
Heute habe ich auf Manuels Schreibtisch fünf Blumen aus Blancas Garten gestellt, die letzten vor dem Winter,und wenn Manuel auch nichts für sie übrig hat, erfüllen sie mich doch mit einem stillen Glück. Es muss einen nicht wundern, dass jemand sich an Farben berauscht, der dem Grau entronnen ist. Das letzte Jahr war ein graues Jahr für mich. Dieser minimalistische Blumenstrauß ist perfekt: ein Wasserglas, fünf Blumen, ein Krabbelkäfer, Tageslicht durchs Fenster. Sonst nichts. Mich an das frühere Dunkel zu erinnern fällt mir zu Recht schwer. Wie lange ich gebraucht habe, um erwachsen zu werden! Eine unterirdische Reise.
Für Brandon Leemans Geschäft war mein Aussehen wichtig: Ich sollte unschuldig wirken, einfach und frisch wie die strahlenden Mädchen, die in den Casinos arbeiteten. Das schuf Vertrauen und sorgte dafür, dass ich nicht auffiel. Er mochte mein sehr kurz geschnittenes, platinblondes Haar, mit dem ich fast männlich wirkte. Er gab mir eine elegante Männerarmbanduhr mit breitem Lederband, um mein Tattoo zu verdecken, weil ich mich weigerte, es entfernen zu lassen. In Boutiquen ließ er mich schaulaufen in den Sachen, die er für mich auswählte, und amüsierte sich über meine übertriebenen Modelposen. Ich hatte nicht zugenommen, obwohl ich mich ausschließlich von Junkfood ernährte und im Studio bloß rumhing; das Laufen hatte ich aufgegeben, weil ich es nicht ausstehen konnte, wenn Joe Martin und der Chinese mir an den Hacken klebten.
Zweimal nahm Brandon Leeman mich in
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