mayday mayday ... eastern wings 610
körperlicher Erschöpfung, eine Art Verteidigungsmechanismus wachruft, der die Betroffenen zum Rückzug in eine nur noch begrenzte Wahrnehmung zwingt. Ob dies in jenen Minuten bei dem verantwortlichen Lotsen der Platzverkehrskontrolle der Fall war, damit würden sich später Untersuchungsausschüsse und Gerichte beschäftigen. Doch welches Ergebnis konnten sie schon erzielen? Wie wollte man festlegen, wo bei Fluglotsen, die wohl eine der anstrengendsten, nervenanspannendsten und obendrein verantwortlichsten Tätigkeiten ausüben, die Belastungsgrenzen liegen? Zum Beispiel bei einem achtundzwanzigjährigen Mann wie Toni Ferrer?
Tonis Augen brannten. Er schob sich ein wenig aus dem Sitz hoch, sog dabei tief die Luft ein und ließ sich wieder zurücksinken, wobei er den Kopf kreisförmig bewegte. Trotz der einundzwanzig Grad, die die Klimaanlage ständig im Tower hielt, fühlte er den Schweiß am Rücken und in den Achselhöhlen. Fühlte? Eigentlich fühlte er gar nichts mehr. Irgendwie war es ihm, als sei der verdammte Nebel von dort draußen in den Tower hereingekrochen und hülle ihn langsam ein.
»He, Toni!« hörte er hinter sich die besorgte Stimme des Schichtleiters. »Ist irgend etwas?«
Toni schüttelte stumm den Kopf.
Der arme Hund hockt jetzt schon sechs Stunden vor dem Schirm, dachte Vidal. Sicher, das ist ungesetzlich, zwei Stunden Pause hätte er machen müssen. Aber woher hätte ich, nachdem Adrover wegen seines Bluthochdrucks ausgefallen ist, bei dem Sauwetter Ersatz schaffen können?
Er wandte sich wieder dem Fenster zu, in der Hoffnung, daß der verdammte Nebel endlich einen Blick auf die Rollbahn erlaubte. Er machte zwei, drei Schritte, weil er glaubte, das Seitenleitwerk des Airbusses ausgemacht zu haben. Toni Ferrer nahm in dieser Sekunde die Positionsmeldung des Condor-Fliegers entgegen: »Wir sind bei Charly 7.«
Toni Ferrer gab die nächste Anweisung. Er gab sie beinahe automatisch, wie im Schlaf. Und sie war verhängnisvoll.
»Rücken Sie in die Intersection ein«, sagte er ins Mikrophon …
Die Bordlautsprecheranlage des Airbusses mit der Kennummer D-AIC verströmte noch immer ihre leise, angenehm beruhigende Streichermusik. In der Galley begann man sich nach stundenlanger Verzögerung auf die Verteilung der Mittagessensportionen für die zweihundertsechzig Passagiere des Hapag-Lloyd-Fluges Palma-Frankfurt vorzubereiten.
In Plastikschachteln verpackt warteten Hühnerleberpastete mit Trüffel, Waldorfsalat, Käse und zum Nachtisch eine Dose Karamelpudding auf die Kunden des Touristikunternehmens. Hübsch anzusehen, sicher auch wohlschmeckend, aber bei dem Appetit, den die Passagiere nach vierstündiger Wartezeit entwickelt hatten, mit Sicherheit nicht ausreichend.
Chef-Purser Andreas Reis, verantwortlich für die siebenköpfige Kabinencrew der Maschine, machte sich seine Sorgen. In den dreiundzwanzig Jahren seiner Berufserfahrung als Bordsteward hatte er einen untrüglichen Instinkt dafür entwickelt, wann der in einer Kabine angestaute Frust sich in Aggression zu verwandeln drohte. Charterpassagiere konnten im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Glauben verdammt unangenehm und anspruchsvoll werden. Und dagegen half weder Streichermusik noch das freundlichste Lächeln.
Andreas Reis warf nochmals einen Blick auf die Bordshop-Bestandsliste. Gerade während des Rückflugs lief das Geschäft, dann waren die Leute bereit, ihre Peseten oder ihr restliches Urlaubsgeld auf den Kopf zu hauen: Geschenke mußten her, die Heimat wartete. Und so gingen die Sabatini, Cacharel- oder Jil-Sander-Parfüms genauso gut wie Spielzeuge, Quarzuhren und Pierre-Cardin-Sonnenbrillen. Selbst die teuren Lederhandtaschen wurden verkauft.
Vorne im Cockpit hatte der Copilot den linken Arm über die Lehne gehängt und war am Mosern: »Ist doch wieder mal typisch. Die meinen, sie können ein paar Räppli sparen, wenn sie mit halbleerem Tank losfliegen. Dabei mußten die Brüder doch genau wissen, was sie hier für ein Scheißwetter kriegen.«
Kapitän Landau nickte und schob sich erneut seinen Kopfhörer zurecht. Der Nebel schien dichter geworden zu sein. Und da kam es auch schon: »Sicht variabel, aber sehr begrenzt. Meist zwischen hundert und fünfhundert Meter«, hörte er die angestrengte Stimme vom Tower der anfliegenden Maschine melden.
Automatischer Landeanflug.
Hände in den Schoß legen und beten … Und damit hat sich's auch schon.
Wie alle Vollblutpiloten hatte sich Walter Stutz schwer damit
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