mayday mayday ... eastern wings 610
stehen und bestellte sich einen Merlot.
Er hob das Glas und grüßte ins Dunkel. Das Wasser murmelte. Anja – ich mache doch Fortschritte. Findest du nicht?
Und da sah er sie. Ihr Bild hatte sich aus dem Dunkel zwischen den Zweigen verdichtet, wie aus einer lebendigen Substanz. Er sah sie, o ja, die grünen Augen, die leichte, lebendige Haarsträhne, die ihr manchmal zwischen die Zähne geriet, wenn sie lachte. Anja …
Doch dies war nicht Mailand. Er saß vor kubusförmigen, schneeweißen, kleinen Häusern. Die Häuser waren an einen Wüstenhang gestreut, ganz so, als habe irgendein Verrückter Eiswürfel aus einem Cocktailglas geschüttet.
Om Quadr – so hieß der Ort. Er erinnerte sich. Ihre Oman-Reise … Es war zwar bereits November, eine angenehme Zeit für die Golfstaaten, aber sie hatte sich dann doch, um sich gegen die Hitze zu schützen, dieses lächerliche Malerschiffchen auf den Kopf gesetzt, das er ihr aus der New York Herald Tribune gefaltet hatte, als sie in Maskat die Maschine verließen.
Das Dörfchen schien völlig ausgestorben. Brückner versuchte sich vorzustellen, wie es hier zuging, wenn die klimatisierten Rolls-Royce, BMWs, Mercedes und Cadillacs aus Maskat anrollten, die Ränge der Rennbahn dort unten sich füllten, und die Jockeys ihre Rennkamele über die Bahn trieben.
Im Moment? Nichts. – Nicht einmal eine Katze.
Sie aber ging vor ihm, stieg eine schmale Treppe zwischen den weißgekalkten Häuserwänden hoch, ging an groben Felssteinmauern vorbei, steuerte auch die nächste Treppe an. Und er schwitzte.
»He, was ist?«
Sie drehte sich um und hob langsam den Arm.
Ein halbrunder, von braunen Quadern umschlossener Platz. Der Baum, der ihn beschattete, wölbte seine gewaltige Krone über ihn. Ein Brotfruchtbaum. Ein Baum, der aussah, als habe er seit biblischen Zeiten mit den grünen Blättern seinen Brunnen bewacht. Neben dem Brunnenrand stand eine junge Frau. Sie war schlank. Sie trug, wie die meisten jungen Frauen in Oman, keinen Schleier. Das Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen, ovalen, tiefschwarzen Augen. Sie lächelte, zog einen Eimer hoch und füllte den Inhalt in ein Tongefäß. Anja hob die Kamera. Das schien die junge Frau nicht zu stören. Sie lächelte wieder und setzte den Krug auf ihren Kopf.
»Mein Gott«, flüsterte Anja, »ist sie schön.«
Sie war es. Sie trug eines dieser knöchellangen farbigen Kleider aus hauchdünnem, mit blauen, grünen und violetten Mustern bedrucktem Flor. Das Licht, das durch die Zweige des Brotfruchtbaums fiel, zeichnete jede Linie ihres Körpers nach.
Sie standen wie versunken.
Die junge Araberin ging an ihnen vorüber, anmutig, langsam, Kopf und Nacken steil aufgerichtet.
Und Brückner sah, daß sie schwanger war.
Er sah ihr nach.
Wenn es je ein Bild gab, das Zeitlosigkeit verkörperte, dann war es diese Araberin mit dem Wasserkrug auf dem Kopf.
Als sie wieder im Hotel in Maskat waren, legte Anja sich schlafen. Brückner aber ließ sich vom Taxi zum Suk bringen. Er brauchte nicht lange zu suchen. Er fand bei einem der Händler ein Kleid, das selbst in den Farben völlig identisch mit dem Kleid schien, das sie am Nachmittag an der jungen Frau gesehen hatten. In das Blau, Grün und Violett mischten sich noch Goldfäden.
Er kaufte es, legte es Anja auf das Bett und ging in die Bar, um sich einen Whisky zu genehmigen.
Als er gerade wieder die Tür zur Suite öffnen wollte, kam sie ihm entgegen.
Dunkel war es geworden. Draußen funkelten die Lichter der Fischerboote. Es gab keine Sonne wie am Nachmittag. Doch die indirekte Beleuchtung übte mit ihren seidenweichen Strahlen denselben Zauber aus. Ihr Haar war gelöst. Sie ging barfuß und hatte die Arme erhoben – so wie das Mädchen am Brunnen. Und er stand und sah ihr entgegen. Dann hob er sie in seine Arme, zart wie nie in seinem Leben, trug sie hinüber zum Bett, streifte das Kleid hoch und zeichnete mit dem Mund und den Fingerkuppen die Linie ihres Körpers nach, als erlebe er zum ersten Mal einen Frauenleib. Er küßte sie in die Kuhle ihres zurückgebogenen Halses. Küßte die steifen Warzen ihrer kleinen Brüste, strich über die Innenseite ihrer Schenkel, staunte über so viel weiche Seidenglätte, staunte vor allem über sich selbst. Mann und Frau, Frau und Mann …
War er bisher so blind, so stumpf gewesen, daß er es so nie erlebte? Mußte er nach Oman fliegen, ein arabisches Bauerndorf besuchen, um zu erfahren, wie es ist – was es sein kann, sich zu
Weitere Kostenlose Bücher