mayday mayday ... eastern wings 610
es. Er brachte den Wagen zum Stehen.
Er spürte den Schweiß auf seinem Rücken und versuchte Atem und Gedanken zu beruhigen: Okay, wenn du etwas in zwanzig Jahren Fliegerei gelernt hast, dann in Gefahrensituationen zu reagieren. Wer nun das Sagen hat, ist der Verstand. Die beiden Typen im Lancia? Wie soll ein Enslin sie derart rasch in Bewegung gesetzt haben? Nun, theoretisch wäre das durchaus möglich. Aber vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung? Vielleicht. Es schien ihm sogar die wahrscheinlichste Erklärung. Solche Knallköpfe konnten nirgends rumlaufen, nicht einmal hier.
Er sah sich um. Der Wagen stand in einer schmalen Gasse, zwischen hohen Mauern, die jedes Licht ausschlossen. Armselige Brennesseln wuchsen auf ein bißchen gelbkörniger Erde. Hinter ihm war das beständige Rauschen des Verkehrs.
Wo steckten sie? Hatten sie aufgegeben?
Sie hatten nicht. Das Verkehrsgeräusch wurde durch den Aufschrei von Gummi auf Asphalt zerrissen. Raus hier! Brückner blieb keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Es gab nur noch eines: sich wie so oft auf den Instinkt zu verlassen.
Er hatte die Wagentür aufgestoßen, warf sich hinaus und rannte.
Und zur selben Zeit schon vernahm er die Schüsse. Ein unregelmäßiges, stakendes Knattern. Nicht zu laut. Aber dies waren keine Fehlzündungen. Er sah die winzigen Staubfontänen, die die Kugeln aus dem Sand rissen. Blätter und Halme knickten. Er hatte sich in der Mitte des Weges gehalten, weil ihn in dieser Richtung der Wagen und der Motorblock schützten.
Doch nun öffnete sich auf der linken Seite die niedrige Mauer eines Gartens. Brückner hechtete hinüber, warf sich zwischen die Büsche, sackte hinter einem Stapel moosbewachsener Baubretter zusammen.
Nach einigen Sekunden nahm er den Kopf hoch.
Das Haus schien nicht bewohnt. Die Fensterläden waren alle geschlossen.
Er kroch zur Mauer, blickte die Gasse entlang. Der Clio stand noch immer wie er ihn verlassen hatte. Die Tür war geöffnet. Auf der Straße zogen die Fahrzeuge vorbei.
Er blickte in die andere Richtung. Sie konnten angehalten haben und von dort, von den verlassenen, verwahrlosten Feldern, kommen. Er ging bis zum Ende des Weges, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er konnte keinen Wagen entdecken.
Er untersuchte den Clio: Zwei Einschüsse. Beide im Heck. Die Kugeln mußten irgendwo in den Polstern steckengeblieben sein, denn im Fahrgastraum waren keine Spuren zu entdecken. Er setzte sich wieder hinters Steuer. Der Motor sprang brav an. Den Wagenvermietern würde er einiges zu erklären haben. Nur was eigentlich?
21. September , Mailand , Ortszeit: 17 Uhr 05
Brückner schöpfte Wasser und beträufelte damit seine Haare: warmes, duftendes Wasser. Er saß in einer Badewanne im vierten Stock des Hotels ›Milan‹ in der Via Manzoni im Zentrum Mailands und hatte beschlossen zu genießen. Was die Wanne anging, war das wirklich einfach. Ein Prachtstück. Eine jener nicht mehr auffindbaren, gußeisernen Jugendstilwannen, die jeden Warmwasser-Fetischisten verrückt machen können. Und Brückner war einer.
Er spülte sich die Seife des Duschgels aus dem Haar, zog den Duft durch die Nase und beschloß, soweit es irgendwie ging, diesen Tag aus seinem Gedächtnis zu streichen, einschließlich eines Dorfes namens Aurigeno und eines Typs namens Max. Was der wohl machte? Vielleicht kurierte Selima gerade die Brandblasen an seinem Ohr, oder er war damit beschäftigt, irgendwelche Kontaktadressen anzurufen, um neue Lancia-Schützen zu organisieren. Gut, dachte Brückner, als er aus der Wanne stieg und nach dem flauschig-weißen Bademantel griff. Gut, du hast dich benommen wie ein Psychopath. Wieso eigentlich willst du ihm dann das Recht nehmen, sich genauso aufzuführen? Vergiß alles. Streich es!
Er ging zu den beiden geschwungenen, gewaltigen Waschbecken der Marke Roca , öffnete einen der bronzenen Hähne und ließ warmes Wasser strömen. Er betrachtete sich selbst, betätschelte Wangen- und Gesichtshaut: leichte Tränensäcke, das schon, aber sonst, wenn man die grauen Haare mal abrechnete und die neuvertieften Mundkerben, war er ganz zufrieden. Hätte schlimmer ausgehen können. Was, du wolltest das doch abhaken, stimmt's? Brückner rasierte sich mit Genuß, massierte hoteleigenes Aftershave der Marke Armani in die Haut, gab Creme darauf, ging in den Salon seiner Suite – jawohl, Suite – strich über Samtvorhänge, bewunderte das Blumengesteck in einer Silberschale, las die Karte: ›Mit den
Weitere Kostenlose Bücher