Mayday
konnte. Berry fragte sich, wie er einer ähnlichen Belastung standgehalten hätte. Er stellte sich einen Augenblick lang Jennifer und die Kinder vor. Aber unter den gegenwärtigen Umständen spielten so viele andere Dinge mit, daß er seine Emotionen nicht eindeutig klassifizieren konnte.
Berry versuchte, sich über seine gegensätzlichen Empfindungen klar zu werden. So oft er daran dachte, aufzugeben und abzuwarten, bis die Straton 797 wegen Treibstoffmangels abstürzte, so oft stellte er sich auch vor, wie er die riesige Verkehrsmaschine perfekt landete. Er sah zu Harold Stein und der Kleinen hinüber. Dann dachte er an die anderen Fluggäste und kam unwillkürlich auf das Wort Euthanasie …
John Berry wußte, daß das gleichmäßige Rauschen der Triebwerke ihm ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelte: Es erzeugte eine Lethargie, von der er sich nur schwer freimachen konnte, solange keine unmittelbare Gefahr zu drohen schien. Aber jede Minute, die ungenutzt verstrich, war eine Minute weniger Flugzeit. Er fragte sich, ob angesichts des hohen Treibstoffverbrauchs in geringeren Höhen überhaupt genügend Treibstoff für eine Landung in den Tanks war. Aber vielleicht konnten sie auch im Pazifik notwassern. Hatte die Straton 797 wie seine Skymaster einen Notsender im Heck? Und funktionierte er noch? Falls er vorhanden war und funktionierte, würde irgendwann ein Schiff kommen. Aber Berry wußte nicht, ob es ihnen gelingen würde, die Maschine zu dritt zu verlassen, bevor sie sank. Und wie stand es mit den behinderten Fluggästen? Und wie lange würden sie mit ihren Schwimmwesten im Meer treiben müssen, falls einige von ihnen sich retten konnten? Er dachte an Sonnenstich, Durst, Stürme und Haie. Aber wenn sie nicht bald etwas unternahmen, waren sie alle so gut wie tot. Ein gnädiges Schicksal hatte ihnen diese Chance gegeben, sich zu retten: ihm, Stein und dem Mädchen. Berry stand ruckartig auf.
»Okay, das Wichtigste zuerst«, sagte er. »Wir müssen feststellen, ob es andere gibt, die nicht von der Dekompression betroffen sind. Mr. Stein … Harold …, Sie gehen nach unten und sehen sich nach solchen Leuten um.«
Stein sah zur Wendeltreppe hinüber. Der Gedanke, sich zu 300 behinderten und wahrscheinlich gefährlichen Passagieren hinunterzuwagen, war wenig verlockend. Er blieb sitzen.
Berry hatte eine andere Idee. »Okay, bleiben Sie hier.« Er ging ins Cockpit, griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage und drückte auf den Sprechknopf. »Hallo, hier spricht … der Captain.« Er hörte seine Stimme aus dem Kabinenlautsprecher kommen. »Falls jemand an Bord ist, der … der …« Verdammt noch mal! »Wer nicht unter den Folgen der Dekompression leidet, sich fit fühlt und noch klar denken kann, kommt bitte in den Salon der Ersten Klasse.« Er wiederholte seine Durchsage und ging dann zu den anderen zurück.
Stein und Berry standen an der Wendeltreppe, sahen nach unten und horchten angestrengt. Einige der Passagiere waren durch die Lautsprecherstimme aus ihrer Lethargie aufgeschreckt worden und gaben seltsame Geräusche von sich. Irgendwo aus dem Hintergrund der Kabine kam ein schrilles Lachen. Stein fuhr zusammen und hielt sich die Ohren zu. Sie warteten, aber niemand kam.
Berry wandte sich an Stein und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das allein ist noch kein Beweis, fürchte ich. Jemand kann irgendwo festsitzen oder vor Angst wie gelähmt sein. Sie müssen selbst nachsehen.«
»Ich will aber nicht in die Kabine runter«, protestierte der andere leise.
Berry biß sich auf die Unterlippe. Er war sich darüber im klaren, daß Harold Stein seine Zeit und sein Mitgefühl wie ein Schwamm aufsaugen würde, falls er das zuließ. Das war ein verständliches Bedürfnis. Aber John Berry konnte ihm keine Zeit opfern und ihn auch nicht bemitleiden. »Was Sie wollen, ist mir scheißegal, Stein! Ich will nicht sterben. Die Kleine auch nicht. Was wir wollen, genügt nicht mehr. Jetzt geht’s darum, was wir müssen. Ich muß wissen, ob uns irgend jemand in dieser gottverdammten Mühle helfen kann. Wir brauchen einen Arzt oder ein Besatzungsmitglied. Vielleicht finden wir einen weiteren Piloten.«
Er wandte sich ab und zeigte ins leere Cockpit. Sein Zorn war echt gewesen, aber er war inzwischen bereits wieder verflogen.
Beim Anblick des leeren Cockpits lief Berry ein kalter Schauer über den Rücken. Er bemühte sich, Stein nichts davon merken zu lassen. »Hier, nehmen Sie den Gürtel mit. Suchen Sie
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