Mayday
zusammengerollt und weinte. Der hochflorige blaue Teppich war mit Kleidungsstücken und Einrichtungsgegenständen übersät.
»Entsetzlich!« brachte Stein hervor, als er wieder zu Berry hinübersah.
»Ruhig, ganz ruhig!« ermahnte Berry ihn. »Diese Leute stören uns nicht, es sei denn, sie würden … unbeherrschbar.«
»Ja. Okay.« Er schien zu überlegen. »Wär’s nicht besser, wenn wir … ihnen helfen würden … nach unten zu kommen?«
Berry nickte. »Ja. Sie sind beunruhigend, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, sie nach unten zu bringen. Ich … außerdem wäre das keine leichte Arbeit. Am besten lassen wir sie vorerst in Ruhe.«
»Gut, einverstanden.«
John Berry beugte sich nach vorn. »Wo sind Sie gewesen, als die … Luft entwichen ist?«
»Das wissen Sie doch, auf der Toilette.«
Linda stellte ihr Coca-Cola ab. »Ich auch, Mr. Berry.«
»Stimmt!« bestätigte er. »Ich bin ebenfalls auf der Toilette gewesen. Dort hat sich der Druck besser gehalten. Seid ihr beide ohnmächtig geworden?«
Sie nickten wortlos.
»Okay. Aber jetzt fehlt uns nichts mehr. Wer keine Sauerstoffmaske aufgesetzt hat, ist tot. Die anderen sind entweder auch tot oder … nun ja … hirngeschädigt.«
Stein beugte sich nach vorn. »Hirngeschädigt?« wiederholte er halblaut.
»Ja, natürlich. So sieht’s doch aus, nicht wahr?«
»Ja, Sie haben … Sie haben recht. Ich … meine Frau … meine beiden Kinder …« Stein verbarg sein Gesicht in den Händen.
Berry war irgendwie nicht auf die Idee gekommen, der andere könnte in Begleitung gereist sein. Er selbst machte seine Reisen seit so vielen Jahren allein, daß er sich gar keinen anderen Zustand vorstellen konnte. Auch zu Hause brauchte er meistens nur an sich selbst zu denken. Alles war so rasch passiert, daß er keine Zeit gehabt hatte, an das Offenkundige zu denken – nicht einmal im Zusammenhang mit Linda Farley, die bestimmt nicht allein gereist war.
»Entschuldigung, Harold, daran habe ich nicht gedacht …« Er merkte, daß Stein ihm nicht mehr richtig zuhörte und daß Linda nahe daran war, erneut in Tränen auszubrechen. »Hören Sie, ich weiß als Pilot aus Erfahrung, daß die Auswirkungen eines … eines Sauerstoffmangels vorübergehend sind. Ich habe nicht wirklich hirngeschädigt gemeint. Das ist der falsche Ausdruck gewesen. Ich traue mir zu, diese Maschine zu landen, und sobald die anderen medizinisch versorgt werden, erholen sie sich bestimmt wieder. Und jetzt müssen Sie mir helfen, damit ich uns alle heimfliegen kann. Okay?« Er wandte sich an Linda, die leise vor sich hin weinte.
»Wer ist mit dir geflogen?« fragte er die Kleine. »Bist du in Begleitung gewesen?«
Linda Farley fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ja, ich bin mit meiner Mutter geflogen. Wir haben … ich habe sie vorhin schon gesucht. Aber es ist alles so schnell gegangen, daß …«
»Ja, ich weiß. Du findest sie bestimmt wieder. Wo habt ihr denn gesessen?« Berry bereute diese Frage sofort wieder. Aber sie ließ sich nicht mehr zurücknehmen.
»In der Mitte«, antwortete Linda. »Wo jetzt das Loch ist, glaube ich.« Sie hatte wieder Tränen in den Augen, als sie erfaßte, was das bedeutete.
Berry wandte sich ab und starrte das großformatige Bild an der Rückwand des Salons in der Nähe des Klaviers an, eine Reproduktion eines Dali-Gemäldes. Eine bizarre Ansammlung geschmolzener, zerfließender Uhren in einer surrealistischen Landschaft. Ein passenderes Bild für diesen Raum war kaum vorstellbar. Berry senkte den Kopf und studierte die weiße Plastikoberfläche des niedrigen Tischchens vor seinem Platz. Er brauchte nur an sich selbst und sein eigenes Überleben denken. Dafür war er seinem Schicksal dankbar. Falls sie gerettet wurden, würde er der einzige sein, der ohne persönlichen Verlust aus dieser Prüfung hervorgegangen war. Er empfand sogar ein gewisses Schuldbewußtsein bei dem Gedanken, daß dieses Erlebnis für ihn eine Wende zum Besseren bedeuten könnte. Aber an Bord waren etwa 350 Passagiere und Besatzungsmitglieder gewesen, von denen die meisten bereits tot waren oder im Sterben lagen. Ein verdammt hoher Preis für Berrys persönliche Wiederauferstehung – falls er tatsächlich überlebte.
Er sah zu Stein hinüber, der wie vor den Kopf geschlagen wirkte. Stein litt offenbar unter dem Bewußtsein, daß seine Frau und seine Kinder zu den Hirngeschädigten gehörten und keine 30 Meter von ihm entfernt saßen, ohne daß er ihnen helfen
Weitere Kostenlose Bücher