Mayday
Bord des Flugzeugträgers kommen, um einen Schießversuch mit der Phoenix zu verfolgen. Das war nicht außergewöhnlich, aber schon keine Routineangelegenheit mehr. Danach hatte Kapitän z. S. Diehl, der Kommandant der Nimitz, nähere Anweisungen für die Erprobung der Phoenix-Raketen erhalten. Das einzige Ungewöhnliche daran war die Anweisung, die Zielentfernung gemäß den neuen Spezifikationen des Herstellers festzulegen. Von diesem Augenblick an hatte Sloan gewußt, daß die Vereinigten Stabschefs insgeheim beschlossen hatten, das neue Abkommen zur Rüstungsbeschränkung zu ignorieren. Und der Zufall hatte es gewollt, daß Sloan als technischer Offizier mit der Leitung dieses Schießversuchs beauftragt worden war. Innerhalb eines Jahres würde er zum Kapitän befördert werden … oder im Marinegefängnis Portsmouth sitzen.
Der Commander wußte, daß er sich jederzeit vor dieser Aufgabe hätte drücken können, indem er Urlaub beantragt hätte. Aber die alten Männer im Pentagon hatten richtig erkannt, daß Sloan eine Spielernatur war, die keiner derartigen Versuchung widerstehen konnte. Sloan spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, und konnte nur hoffen, daß Hennings nichts davon merkte. »Noch ungefähr zehn Minuten, Admiral.« Er ließ eine Countdown-Digitaluhr auf dem Schaltpult anlaufen.
Sloan fand Countdowns immer wieder faszinierend, obwohl er sie andererseits fürchtete. Er beobachtete die rückwärtslaufende Anzeige und nutzte die Zeit, um über seine Motive nachzudenken und sich in seiner Entschlossenheit zu bestätigen, um sich eine Begründung für sein Verhalten zurechtzulegen. Die modernisierte Phoenix würde den Vereinigten Stabschefs beweisen, daß die Rakete im Ernstfall einsatzbereit war. Dann durften die Politiker ruhig weiter über Abrüstung verhandeln. Die amerikanische Jagdwaffe würde einen Vorsprung haben, von dem niemand etwas ahnte: einen kleinen, aber höchst bedeutsamen Vorsprung. Noch neun Minuten.
Commander Sloan schenkte sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein. Er beobachtete Hennings aus dem Augenwinkel heraus. Hennings machte einen unbehaglichen Eindruck. Das sah Sloan ihm deutlich an; es war ihm an diesem Tag schon mehrmals aufgefallen. Wußte Hennings mehr als er?
Sloan trat ans andere Ende des Schaltpults und warf einen Blick auf die Meßinstrumente. Aber er dachte dabei über Hennings nach. Der pensionierte Admiral schien sich kaum für den bevorstehenden Schießversuch zu interessieren. Und er zeigte auch kein Interesse für Sloan, was eigenartig war, weil der Commander zu wissen glaubte, daß Hennings eine mündliche Beurteilung über ihn abgeben würde. Sloan spürte leichte Anzeichen eines für Leutnants typischen Verfolgungswahns und schüttelte ihn energisch ab. Ein erfahrener Offizier konnte alles zu seinem Vorteil ausnützen. Sloan würde Hennings’ Desinteresse in einen Vorteil für sich ummünzen.
Der Alte stand plötzlich auf und trat dicht an Sloan heran. »Sind die Ergebnisse gleich nach dem Schießversuch verfügbar, Commander?« fragte er mit halblauter Stimme. »Oder müssen sie erst ausgewertet werden?«
Sloan schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche nur noch die Meßwerte einzusetzen«, antwortete er und zeigte auf den Stapel Vordrucke auf seinem Arbeitsplatz. »Das dauert keine halbe Stunde.«
Hennings nickte dankend. Er sah sich in dem mit elektronischen Geräten vollgestopften Raum um. Die Funktionen dieser Geräte waren ihm nicht ganz rätselhaft: Er kannte einige und konnte sich bei anderen vorstellen, wozu sie dienten. Als junger Offizier hatte er den Technikern an Bord seiner Schiffe häufig Fragen gestellt. Aber im Lauf der Jahre waren ihm ihre Antworten immer unverständlicher geworden. So war die merkwürdige Situation entstanden, daß er sich in einflußreicher Stellung wiedergefunden hatte, ohne zu verstehen, was seine wichtigsten Untergebenen taten oder beabsichtigten.
Er wandte sich um, blieb vor dem einzigen Bullauge der Kabine stehen und schob den schwarzen Verdunkelungsvorhang zur Seite. Die ruhige See beschwichtigte seine aufgeregten Gedanken und sein bedrücktes Gewissen. Randolf Hennings erinnerte sich daran, daß er schließlich zu der Einsicht gekommen war, Untergebene nach ihrer Persönlichkeit beurteilen und auf ihre technischen Fähigkeiten vertrauen zu müssen. Mit Menschen kannte er sich aus, denn mit seinen 67 Jahren hatte er immerhin gelernt, Menschen zu beurteilen. Er konnte in den Herzen und
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