McCreadys Doppelspiel
Geheimdienstleute in dem Gebiet erhielten dann Hinweise. Ich möchte mich mit jemandem treffen. Ich möchte die Bedingungen diskutieren. Im allgemeinen wurde der potentielle Überläufer gebeten zu bleiben, wo er war, und erst einmal reichlich Informationen zu liefern, bevor er endgültig >rüberkam<. Weigerte sich der Überläufer, wurde er gedrängt, zumindest einen Sack voll Dokumente mitzubringen. Von der Menge des Materials, das er vor dem Überlaufen schicken oder aber mitbringen konnte, hingen später sein Status, seine Belohnung, sein Lebensstil ab. In der Branche wurde dieses Material als >Brautpreis< bezeichnet.
Ganz selten gab es auch einmal einen sogenannten Walk-in. Ein solcher Überläufer tauchte einfach auf, nachdem er alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, und konnte dann natürlich nicht mehr zurück. In diesem Fall hatte man kaum eine Wahl. Man mußte den Mann entweder übernehmen oder ihn in ein Flüchtlingslager schicken. Letzteres kam jedoch kaum vor, nicht einmal bei einem ziemlich nutzlosen, rangniedrigen Überläufer wie einem Seemann der Handelsmarine oder einem einfachen Soldaten, der nichts anzubieten hatte. In der Regel geschah es nur, wenn Tests mit dem Lügendetektor unmittelbar nach dem Überlaufen bewiesen, daß der Mann ein Desinformationsagent war. Dann weigerte sich Amerika rundweg, ihn zu übernehmen. In diesem Fall machten die Russen meist gute Miene zum bösen Spiel, holten ihren Agenten aus dem Flüchtlingslager und schafften ihn nach Hause.
Soviel Roth wußte, hatte der KGB in einem Fall einen von den Amerikanern abgelehnten Überläufer in einem Flüchtlingslager aufgespürt und ihn liquidiert. Der Grund für
die Ablehnung: Er hatte den Lügendetektor-Test nicht bestanden, obwohl er die Wahrheit gesagt hatte. Das Gerät hatte seine Nervosität als Lügen interpretiert. Unglaubliches Pech. Aber das war natürlich schon eine ganze Weile her; die Lügendetektoren waren inzwischen besser geworden.
Und jetzt dieser Mann, der behauptete, Oberst des KGB zu sein, und einfach rüberkommen wollte. Keine Vorwarnung. Kein Feilschen. Kein Koffer voller Dokumente frisch aus der KGB-Residentur seines letzten Standorts. Ein Mann, der ausgerechnet mitten in England überlaufen wollte, nicht im Nahen Osten oder in Lateinamerika. Und zu den Amerikanern, nicht zu den Briten. Oder hatte er sich schon an die Briten gewandt? Und war abgewiesen worden? Fieberhaft spielte Roth alle Möglichkeiten durch. Die Minuten vergingen.
Fünf nach sieben, fünf nach zwei in Washington. Mitten in der Nacht. Eigentlich hätte er Calvin Bailey anrufen müssen, den Leiter der Abteilung Sonderprojekte, seinen Chef. Der zweifellos in Georgetown im Bett lag und fest schlief. Aber die Zeit. Es war keine Zeit. Er öffnete einen Wandschrank, und sein Computer kam zum Vorschein. Mit ein paar rasch eingegebenen Befehlen schaltete er sich in den Großrechner tief unter der Botschaft am Grosvenor Square ein. Er gab den Geheimcode ein und wies den Rechner an, nach ranghohen KGB- Offizieren zu suchen, die im Westen bekannt waren. Dann fragte er: Wer ist Pjotr Alexandrowitsch Orlow?
Eine der Merkwürdigkeiten in der Welt der Geheimdienste ist die beinahe clubähnliche Atmosphäre, die oft in ihr herrscht. Eine ähnliche Kameraderie gibt es bei den Piloten, aber bei ihnen wird das geduldet. Auch Fallschirmjägern und anderen Spezialeinheiten ist sie nicht fremd.
Profis haben meist Achtung voreinander, selbst über die Grenzen von Rivalität oder regelrechter Feindschaft hinweg. Im Zweiten Weltkrieg haßten die Piloten der Luftwaffe und der Royal Air Force einander meist nicht; solche Gefühle überließen sie Fanatikern und Zivilisten. Profis dienen ihren politischen Herren und Bürokraten loyal, gehen aber lieber mit anderen Angehörigen ihrer Zunft ein Bier trinken, auch wenn diese auf der anderen Seite stehen.
In der Welt der Geheimdienste wird aufmerksam verfolgt, wen die andere Seite diese Woche ins Gefecht schickt. Beförderungen und Versetzungen in befreundeten, rivalisierenden oder feindlichen Geheimdiensten werden sorgfältig registriert. In jeder Hauptstadt weiß der KGB- Resident, wer die britischen und amerikanischen Stationschefs sind, und umgekehrt. In Daressalam kam einmal der KGB-Chef auf einer Cocktailparty mit einem Whisky Soda in der Hand auf den Stationschef des britischen SIS zu.
»Mr. Child«, begann er feierlich. »Sie wissen, wer ich bin, und ich weiß, wer Sie sind. Wir haben ein
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