McEwan Ian
ihre Zungen sich berührten, war ein körperloser Teil von ihm ganz erbärmlich dankbar, denn er wußte, jetzt speicherte er eine Erinnerung, von der er noch Monate zehren würde. So wie er jetzt davon zehrte, frühmorgens in einer französischen Scheune. Ihre Umarmung wurde enger; sie hörten nicht auf, sich zu küssen, während die Wartenden an ihnen vorbeidrängten. Irgendein Witzbold brüllte ihm was ins Ohr. Sie weinte, Tränen liefen über seine Wange, und Kummer spannte ihre Lippen. Der nächste Bus kam. Sie riß sich los, drückte sein Handgelenk, stieg ohne ein Wort ein und blickte sich nicht nach ihm um. Er sah, wie sie einen Platz suchte. Als der Bus losfuhr, fiel ihm ein, daß er hätte mitfahren sollen, daß er sie zum Krankenhaus hätte bringen sollen. Auf mehrere Minuten in ihrer Gesellschaft hatte er einfach verzichtet. Er mußte wieder lernen, für sich zu denken und zu handeln. Er lief hinterher, hoffte, Cecilia an der nächsten Haltestelle einzuholen, aber der Bus war weit voraus und verschwand bald in Richtung Parliament Square.
Sie schickten sich auch während seiner Ausbildung Briefe. Befreit von der Zensur und dem Zwang zur Umschreibung, gingen sie behutsam vor. Sie waren unzufrieden mit einem Leben auf dem Papier, kannten aber ihre Schwierigkeiten und trauten sich deshalb nicht recht, der Berührung ihrer Hände und diesem einen Bushaltestellenkuß vorauszueilen. Sie schrieben, daß sie sich liebten, nannten sich »Liebes« und »Liebster« und wußten, daß sie eine gemeinsame Zukunft hatten, aber vor größerer Intimität schreckten sie zurück. Ihre Aufgabe war es nun, bis zum Beginn der zwei Wochen die gerade gewonnene Nähe nicht wieder zu verlieren. Mit Hilfe einer Freundin vom Girton College fand Cecilia ein Cottage in Wiltshire, das sie mieten konnten, und obwohl sie in ihrer Freizeit kaum an etwas anderes dachten, versuchten sie in ihren Briefen, die Träume nicht mit sich durchgehen zu lassen. Lieber schrieben sie von ihrem Alltag. Cecilia war jetzt auf der Wöchnerinnenstation, und jeder Tag brachte seine kleinen Wunder, aber auch dramatische oder überaus heitere Augenblicke. Es gab allerdings Tragödien, vor deren Hintergrund ihre eigenen Probleme belanglos wurden: totgeborene Kinder; sterbende Mütter; junge Männer, die weinend auf den Fluren saßen; verwirrte minderjährige Mütter, die von ihren Familien verstoßen worden waren, oder Mißbildungen der Kinder, die zugleich Scham und Zuneigung in verwirrendem Maße weckten. Wenn Cecilia ein glückliches Ende beschrieb, jenen Augenblick, in dem der Kampf vorüber war und eine erschöpfte Mutter ihr Kind zum ersten Mal in den Armen hielt und verzückt in ein neues Gesicht blickte, dann war es die unausgesprochene Anspielung auf Cecilias eigene Zukunft, jene, die sie mit ihm teilen würde, die dem Brief seine schlichte Kraft verlieh, auch wenn seine Gedanken sich in Wahrheit weniger um die Geburt als um die Zeugung drehten.
Er dagegen beschrieb den Exerzierplatz, den Schießstand, den Drill, wie sie »geschliffen« wurden, die Kasernen. Er durfte sich nicht zur Offizierslaufbahn melden, aber das war ihm nur recht, denn früher oder später hätte er in der Offiziersmesse doch jemanden getroffen, der seine Vergangenheit kannte. Unter den einfachen Soldaten war er anonym, und weil er eingesessen hatte, begegnete man ihm sogar mit einer gewissen Hochachtung. Außerdem stellte er fest, daß er auf das Soldatenleben bereits gut vorbereitet war, auf den Terror der Spindinspektion, das Falten der Decken in exakte Vierecke, die Etiketten genau übereinander. Im Gegensatz zu seinen Kameraden fand er das Essen gar nicht mal übel, und die Tage waren ermüdend, dafür aber auch ziemlich abwechslungsreich. Die Querfeldeinmärsche bereiteten ihm ein Vergnügen, das er vor den anderen Rekruten gar nicht zu erwähnen wagte. Er nahm zu und wurde kräftiger. Alter und Bildung wurden ihm erst angekreidet, doch glich seine Vergangenheit dies wieder aus, und man machte ihm keine Schwierigkeiten. Meist hielt man ihn einfach für einen gewieften Schlawiner, der sich mit »denen da oben« auskannte und helfen konnte, wenn es galt, ein Formular auszufüllen. Wie Cecilia beschränkte er sich in seinen Briefen auf das Alltägliche, vermengt mit der ein oder anderen lustigen oder aufregenden Anekdote: der Rekrut, dem beim Antreten ein Stiefel fehlte; das Schaf, das in der Kaserne Amok lief und sich nicht vertreiben ließ; der Ausbilder, der auf dem
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