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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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wie das reflexhafte Zuschnappen einer Muschel. Sämtlicher Urlaub wurde gestrichen. Wenig später hieß es, er sei nicht gestrichen, sondern nur verschoben worden. Man gab ein Datum an, änderte es, strich es wieder. Und dann wurden innerhalb von vierundzwanzig Stunden plötzlich Bahnkarten ausgegeben. Ihnen blieben vier Tage, bevor er sich bei seinem neuen Regiment wieder zum Dienst melden mußte. Gerüchte besagten, es sollte verlegt werden. Cecilia hatte versucht, ihre Urlaubstage zu verschieben, was ihr teilweise auch gelungen war. Als sie es aber erneut versuchte, konnte man ihr nicht mehr entgegenkommen. Und als die Karte eintraf, die sie von seiner Ankunft informieren sollte, war sie bereits auf dem Weg nach Liverpool, um am Alder Hey Hospital einen Kurs für die Behandlung schwerer Schockzustände zu beginnen. Einen Tag nach seiner Ankunft in London brach er wieder auf, um ihr nach Norden zu folgen, aber die Züge waren entsetzlich langsam. Sämtliche Militärzüge auf dem Weg nach Süden hatten Vorrang. Auf dem Bahnhof New Street in Birmingham verpaßte er dann einen Anschlußzug, und die nächste Verbindung wurde gestrichen. Er würde bis zum folgenden Morgen warten müssen. Eine halbe Stunde marschierte er verzweifelt und unschlüssig die Bahnsteige auf und ab, um sich dann schließlich doch zur Umkehr zu entschließen. Sich verspätet zum Dienst zu melden war ein schweres Vergehen. Als sie aus Liverpool zurückkehrte, ging er in Cherbourg an Land, und der trostloseste Winter seines Lebens begann. Natürlich waren sie beide gleichermaßen unglücklich, doch hielt sie es für ihre Aufgabe, ihn aufzumuntern und zu trösten. Ich werde nicht von hier fortgehen, schrieb sie in ihrem ersten Brief nach der Rückkehr aus Liverpool. Ich warte auf Dich. Komm zurück. Sie zitierte sich selbst. Sie wußte, daß er sich an ihre Worte erinnerte. Und von da an hörte jeder ihrer Briefe an Robbie in Frankreich mit diesen Worten auf, auch der letzte, den er kurz vor dem Befehl erhalten hatte, sich nach Dünkirchen zurückzuziehen.
Es war ein langer, bitterkalter Winter für das britische Expeditionsheer in Nordfrankreich. Es passierte so gut wie gar nichts. Sie hoben Gräben aus, sicherten die Nachschubwege und wurden auf nächtliche Manöver geschickt, die den Infanteristen völlig absurd erschienen, da es an Waffen fehlte und keiner ihnen die Manöverziele erklärte. Nach Dienst war jeder Mann ein General. Selbst der einfachste Schütze hatte begriffen, daß der Krieg diesmal kein Stellungskrieg sein würde. Die ersehnten Panzerabwehrwaffen sollten jedoch niemals eintreffen. Genaugenommen hatten sie fast überhaupt keine schweren Waffen. Es war eine Zeit der Langeweile, der Fußballspiele gegen andere Kompanien und der tagelangen Märsche mit vollem Gepäck über Landstraßen, auf denen sie stundenlang nichts weiter zu tun brauchten, als nicht aus dem Schritt zu fallen und im Takt der Stiefel auf dem Asphalt vor sich hin zu träumen. Meist war er in Gedanken bei ihr und plante den nächsten Brief, schliff an seinen Formulierungen und versuchte, ihr zuliebe der Trostlosigkeit etwas Heiteres abzugewinnen.
Vielleicht lag es am ersten grünen Schimmer entlang der französischen Wege, vielleicht an den im Wald erspähten blauen Glockenblumen, daß er an notwendige Versöhnungen und Neuanfänge dachte. Er beschloß, sie noch einmal zu bitten, sich mit ihren Eltern in Verbindung zu setzen. Sie brauchte ihnen gar nicht zu vergeben oder die alten Argumente noch einmal aufzuwärmen. Sie sollte ihnen bloß einen einfachen, kurzen Brief schreiben, der sie wissen ließ ,wo sie war und wie es ihr ging. Wer konnte schon sagen, welche Veränderungen die nächsten Jahre bringen mochten? Er wußte nur, wenn sie mit ihren Eltern keinen Frieden geschlossen hatte, ehe einer von ihnen starb, würde sie sich ihr Leben lang Vorwürfe machen. Und er würde es sich selbst nie verzeihen, wenn er sie nicht zu diesem Schritt ermutigt hatte.
Also schrieb er im April einen Brief, und ihre Antwort erreichte ihn erst Mitte Mai, als sie bereits hinter die eigenen Linien zurückfielen, kurz bevor der Befehl kam, sich bis an den Ärmelkanal zurückzuziehen. Sie hatten keine Feindberührung gehabt. Der Brief steckte jetzt in der oberen Tasche. Es war der letzte Brief, der zu ihm durchkam, ehe die Feldpost zusammenbrach.
    Ich wollte Dir eigentlich nichts davon erzählen, weil ich immer noch nicht weiß, was ich davon halten soll. Außerdem wollte ich warten,

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