Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
Deshalb mußte er überleben, listig sein und den Hauptrouten fernbleiben, wo die Sturzkampfbomber wie Raubvögel kreisten. Später warf er den Militärmantel ab, zog die Stiefel an und tastete sich durch die Scheune, um sich draußen zu erleichtern. Ihm war schwindlig vor Müdigkeit, aber schlafen konnte er trotzdem nicht. Er ignorierte die knurrenden Hofhunde, schlug den Weg zu einer grasbewachsenen Anhöhe ein und beobachtete die Lichtblitze am südlichen Himmel. Der Sturmangriff der deutschen Panzertruppen. Er faßte sich an die obere Tasche, in der außer ihrem Brief auch das Gedicht steckte. In the nightmare of the dark /All the dogs of Europe bark. Die übrigen Briefe waren in der innen angeknöpften Tasche seines Militärmantels. Er kletterte auf das Rad eines abgestellten Wohnwagens und konnte von dort weit in die anderen Himmelsrichtungen blicken. Überall Mündungsfeuer, nur nicht im Norden. Die besiegte Armee flüchtete durch einen schmalen Korridor, der immer enger wurde und jeden Moment geschlossen werden konnte. Für Nachzügler gab es dann keine Hoffnung auf Entkommen mehr. Im besten Fall bedeutete das wieder Gefängnis. Gefangenschaft. Und diesmal würde er nicht durchhalten. Wenn Frankreich fiel, würde der Krieg nicht so bald zu Ende gehen. Keine Briefe mehr und kein Weg zurück. Kein Aushandeln einer vorzeitigen Entlassung, wenn er sich zur Infanterie meldete. Wieder die Hand an der Kehle. Tausend Nächte in Gefangenschaft stünden ihm bevor, Tausende vielleicht, schlaflos die Vergangenheit umwälzen, darauf warten, daß sein Leben wieder begann, sich fragen, ob es je wieder beginnen würde. Vielleicht wäre es besser, jetzt sofort aufzubrechen, noch ehe es zu spät war, weiterzugehen, Tag und Nacht, bis an den Ärmelkanal. Sich heimlich davonmachen, die Unteroffiziere ihrem Schicksal überlassen. Er drehte sich um, ging die Anhöhe wieder hinab und entschied sich dagegen. Er konnte den Boden unter seinen Füßen nicht erkennen. Er würde im Dunkeln kaum vorankommen und brach sich womöglich ein Bein. Vielleicht waren die Unteroffiziere ja doch keine solchen Trottel – Mace mit seinen Strohmatratzen und Nettle mit dem Geschenk für die beiden Brüder.
Ihrem Schnarchen folgend, schleppte er sich zurück auf sein Lager. Doch der Schlaf wollte noch nicht kommen, oder wenn er kam, dann nur kurz; Turner sank unter und tauchte gleich wieder auf, benommen vor lauter Gedanken, die er nicht wollte und nicht beeinflussen konnte. Sie verfolgten ihn, diese alten Themen. Da war sie wieder, seine einzige Begegnung mit ihr. Seit sechs Tagen aus dem Gefängnis, einen Tag bevor er nahe Aldershot seinen Dienst antreten mußte. Als sie 1939 ausgemacht hatten, sich in Joe Lyons Teesalon an der Strand Street zu treffen, hatten sie sich dreieinhalb Jahre nicht gesehen. Er kam zu früh und setzte sich in eine Ecke mit Blick zur Tür. Die Freiheit war immer noch ungewohnt. Das Tempo und der Lärm, die Farben der Mäntel, Jacken und Röcke, die fröhlichen, lauten Unterhaltungen der Einkaufsbummler in West End, das freundliche Mädchen, das ihn bediente, nicht die allerkleinste Bedrohung – er lehnte sich zurück und genoß die Behaglichkeit des Alltäglichen. Diese Schönheit konnte nur er allein genießen.
Während der Haft hatte man als einzigen weiblichen Besucher nur seine Mutter zu ihm vorgelassen. Damit sein Blut nicht in Wallung geriete, hieß es. Cecilia schrieb jede Woche. Da er sie liebte, sich um ihretwillen zwang, bei Verstand zu bleiben, war er natürlich in ihre Worte verliebt. Wenn er ihr antwortete, gab er vor, unverändert zu sein, log sich zurück in die Normalität. Aus Angst vor seinem Psychiater, der auch sein Zensor war, konnten sie niemals ihr Begehren erwähnen, nicht einmal ihre Gefühle. Dabei galt das Gefängnis trotz seiner viktorianischen Unerbittlichkeit als modern und aufgeklärt. Mit klinischer Präzision aber hatte man bei ihm ein krankhaftes Sexualverlangen diagnostiziert, weshalb er nicht nur der Strafe, sondern auch der Hilfe bedurfte. Jegliche Erregung galt es also zu vermeiden. Manche Briefe – von ihm sowohl wie von ihr – wurden wegen einiger verschämter Eingeständnisse ihrer Zuneigung konfisziert. Also schrieben sie über Literatur, ließen literarische Figuren zu ihren Codeworten werden. In Cambridge waren sie auf den Straßen achtlos aneinander vorbeigegangen. All die Bücher, die glücklichen oder tragischen Gestalten, über die sie sich nie unterhalten hatten! Tristan

Weitere Kostenlose Bücher