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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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und Isolde, der Herzog Orsino und Olivia (und auch Malvolio), Troilus und Criseyde, Mr. Knightley und Emma, Venus und Adonis. Turner und Tallis. In seiner Verzweiflung schrieb er über Prometheus, gekettet an einen Fels, an dessen Leber Tag für Tag ein Geier fraß. Manchmal war sie die geduldig ausharrende Griselde. Wurde »eine stille Ecke in einer Bibliothek« erwähnt, war dies das Schlüsselwort für sexuelle Ekstase. Sie nahmen sich auch die tägliche Routine samt aller langweiligen, liebevoll angeführten Einzelheiten vor. Er beschrieb ausführlich den Gefangenenalltag, sagte aber nichts über dessen Idiotie. Die war auch so nicht zu übersehen. Er gestand ihr nie, daß er fürchtete, nicht durchzuhalten. Auch das war offensichtlich. Und sie schrieb ihm nie, daß sie ihn liebte, doch hätte sie es getan, wenn sie geglaubt hätte, damit bis zu ihm vordringen zu können. Aber er wußte es auch so.
Dafür schrieb sie ihm, daß sie sich von ihrer Familie getrennt hatte. Nie wieder wollte sie mit ihren Eltern, ihrem Bruder oder ihrer Schwester reden. Und er folgte aufmerksam jedem ihrer Schritte bis zu ihrer Prüfung als Krankenpflegerin. Wenn sie schrieb: »Ich bin heute zur Bücherei gegangen, um mir das Anatomiebuch zu holen, von dem ich dir erzählt habe. In einer stillen Ecke habe ich dann getan, als würde ich lesen«, dann wußte er, daß sie von denselben Erinnerungen zehrte, die auch ihm Nacht für Nacht unter der dünnen Gefängnisdecke zusetzten.
    Als sie das Café betrat, das Cape einer Krankenschwester um die Schultern, riß ihn ihr Anblick aus seinen Tagträumereien, und er stand so rasch auf, daß sein Tee überschwappte. Er wußte, sein Anzug, für den seine Mutter lange gespart hatte, war viel zu groß. Das Jackett schien an keiner einzigen Stelle die Schultern zu berühren. Sie setzten sich, schauten sich an, lächelten und blickten wieder beiseite. Robbie und Cecilia liebten sich seit Jahren – auf dem Postweg. In ihren verschlüsselten Mitteilungen waren sie sich nahegekommen, doch wie künstlich schien ihnen nun diese Nähe, als sie mit ihrem belanglosen Geplauder begannen, diesem hilflosen Katechismus höflicher Fragen und Antworten. Noch während sich die Kluft zwischen ihnen weitete, begriffen sie, wie sehr sie in ihren Briefen sich selbst überholt hatten. Dieser Moment, viel zu oft ausgemalt und herbeigesehnt, konnte ihren Erwartungen einfach nicht genügen. Robbie war zu lange Zeit aus der Welt gewesen; ihm fehlte das Selbstvertrauen, gleichsam einen Schritt zurückzutun und den größeren Gedanken zu wagen. Ich liebe dich, du hast mein Leben gerettet. Er fragte nach ihrem Zimmer. Sie erzählte.
»Und verstehst du dich mit deiner Vermieterin?« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er fürchtete die Stille, die entstehen könnte, die Verlegenheit, die ihren Worten vorausgehen würde, ja, es sei nett gewesen, ihn einmal wiederzusehen, aber nun müsse sie zurück zur Arbeit. Alles, was sie besaßen, beruhte auf einigen wenigen, lang vergangenen Minuten in einer Bibliothek. Konnte das ausreichen? Gewiß würde sie problemlos wieder in die Rolle einer Art leiblichen Schwester schlüpfen können. War sie enttäuscht? Er hatte abgenommen. Er war in jeder Hinsicht weniger geworden. Im Gefängnis hatte er gelernt, sich zu verachten, sie aber sah so hinreißend aus wie eh und je, vor allem in dieser Krankenpflegertracht. Doch sie selbst war auch ziemlich nervös, unfähig, einfach mit den Belanglosigkeiten aufzuhören. Statt dessen versuchte sie, vergnüglich von den Launen ihrer Vermieterin zu erzählen. Noch einige hilflose Bemerkungen, dann schaute sie tatsächlich auf die kleine Uhr, die über ihrer linken Brust hing, und sagte, daß ihre Mittagspause bald vorbei sei. Sie hatten eine halbe Stunde gehabt.
Er begleitete sie bis zur Bushaltestelle Whitehall. In den kostbaren letzten Minuten schrieb er ihr seine Adresse auf, eine deprimierende Reihe von Ziffern und Abkürzungen, und erklärte, daß er erst wieder Ausgang haben werde, wenn die Grundausbildung vorüber sei. Danach standen ihm zwei Wochen zu. Sie blickte ihn an, und als sie ein wenig verzweifelt den Kopf schüttelte, nahm er endlich ihre Hand und drückte sie sanft. Diese Geste mußte ihr alles sagen, was unausgesprochen geblieben war, und sie antwortete ihm, erwiderte den Druck seiner Hand. Ihr Bus kam, aber sie ließ nicht los. Sie schauten sich an. Er küßte sie, behutsam zuerst, doch dann drängten sie enger aneinander; und als

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