McEwan Ian
Küchentisch bewirtet«, sagte Jean-Marie, »aber dann hätten wir sie erst in ihr Zimmer einsperren müssen.«
»Aber das Essen war doch phantastisch«, protestierte Turner. Nettle flüsterte Mace etwas ins Ohr, und als der nickte, holte Nettle zwei Stangen Zigaretten aus seinem Gepäck. Natürlich, das war jetzt genau das Richtige. Die Franzosen wehrten zwar höflich ab, aber Nettle ging um den Tisch herum und steckte ihnen die Geschenke unter die Arme. Er wollte, daß Turner für ihn übersetzte.
»Ihr hättet sehen sollen, wie der Befehl kam, die Vorratslager zu vernichten. Zwanzigtausend Zigaretten. Wir haben uns genommen, soviel wir wollten.«
Eine ganze Armee flüchtete zur Küste, mit Zigaretten gegen den Hunger bewaffnet.
Die Franzosen bedankten sich artig, lobten Turners Französisch und sammelten dann die leeren Flaschen und Gläser in den Leinenbeutel. Niemand gab vor, daß sie sich wiedersehen würden.
»Wir brechen mit dem ersten Tageslicht auf«, sagte Turner. »Also verabschieden wir uns lieber gleich.«
Sie gaben sich die Hände.
Henri Bonnet sagte: »All die Schlachten, die wir vor fünfundzwanzig Jahren geschlagen haben. All die Toten. Und jetzt sind die Deutschen wieder in Frankreich. In zwei Tagen werden sie hier sein und sich alles nehmen, was uns gehört. Wer hätte das je gedacht?«
Zum ersten Mal empfand Turner die ganze Schande ihres Rückzugs. Er schämte sich. Mit noch weniger Überzeugung als beim ersten Mal sagte er: »Wir kommen wieder. Wir treiben sie aus diesem Land, das verspreche ich euch.«
Die Brüder nickten, und mit einem letzten Lächeln traten sie aus dem schummerigen Schein der Kerze und gingen durch die dunkle Scheune zum offenen Tor; die Gläser klirrten bei jedem Schritt.
L ange lag er auf dem Rücken, rauchte und starrte hinauf in die schwarze Dachhöhlung. Das Schnarchen der Unteroffiziere schwoll im wechselseitigen Rhythmus an und verebbte wieder. Er war erschöpft, aber nicht müde. Die Wunde pochte unangenehm, jeder Pulsschlag prall und präzise. Es war spitz, was in ihm steckte, und lag gleich unter der Haut, weshalb er am liebsten mit der Fingerspitze darübergefahren wäre. Erschöpfung machte ihn für die Gedanken anfällig, die er so gern verdrängt hätte. Er dachte an den französischen Jungen, schlafend in seinem Bett, und an die Gleichgültigkeit, mit der Männer Granaten in die Gegend feuerten. Oder ihre Bombenschächte über einem schlafenden Haus an den Schienen öffneten, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, wer dort unten lebte. Auch das war industrieller Fortschritt. Er hatte die eigenen Einheiten der Royal Artillery beobachtet, verschworene Truppen, die Tag und Nacht arbeiteten und stolz darauf waren, wie schnell sie Zündschnüre verlegen konnten, stolz auf ihre Disziplin, den Drill, auf Ausbildung und Mannschaftsgeist. Sie brauchten sich das Ergebnis auch nie anzusehen - einen verschwundenen Jungen. Verschwunden. Als ihm das Wort durch den Kopf ging, riß ihn der Schlaf hinab, doch nur für einige Sekunden. Dann war er wieder wach, lag auf dem Bett, auf dem Rücken, und starrte in die Dunkelheit seiner Zelle. Er spürte, daß er wieder dort war. Er konnte den Betonboden riechen, die Pisse im Eimer, die Lackfarbe an den Wänden, konnte das Schnarchen der anderen Männer in seiner Zellenreihe hören. Dreieinhalb Jahre lang Nächte wie diese, schlaflos, in Gedanken bei einem anderen Jungen, der verschwunden war, einem anderen Leben, das verschwunden war und einmal ihm gehört hatte; und warten, warten auf die Dämmerung, das Ausleeren der Toiletteneimer, auf noch einen sinnlosen Tag. Er wußte nicht, wie er die tagtägliche Idiotie des Ganzen überstanden hatte. Die Idiotie und die Klaustrophobie. Die Hand, die ihm die Kehle zudrückte. Hier zu sein, Schutz in einer Scheune zu suchen, zu einer fliehenden Armee zu gehören, hier, wo ein Kinderbein auf einem Baum etwas war, das normale Männer ignorieren konnten, wo ein ganzes Land, eine ganze Zivilisation unterzugehen drohte, hier war es immer noch besser, als dort auf schmalem Bett unter funzligem, elektrischem Licht zu liegen und auf nichts zu warten. Hier gab es immerhin bewaldete Täler, Flüsse, Sonnenlicht, das sich in Pappeln fing und das sie ihm nicht nehmen konnten, es sei denn, sie töteten ihn. Und es gab Hoffnung. Ich warte auf dich. Komm zurück. Es gab eine Chance, immerhin eine Chance, daß er es zurück schaffte. Er hatte ihren letzten Brief in seiner Tasche, ihre neue Adresse.
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