McEwan Ian
einzelnen Mann Hatz gemacht hatten. Mit der freien Hand zog er die Frau am Arm hinter sich her. Der Junge machte sich in die Hose und brüllte Turner ins Ohr. Die Mutter bekam einfach kein Bein vors andere. Sie streckte eine Hand aus und rief etwas. Sie wollte ihren Sohn zurück. Das Kind zappelte und kroch über seine Schulter auf sie zu. Dann begann das Kreischen der fallenden Bombe. Es hieß, wenn man dieses Geräusch vor der Explosion verstummen hörte, war es um einen geschehen. Im Fallen zog er die Frau mit sich und preßte ihren Kopf ins Gras. Kaum hatte er sich halb über das Kind geworfen, da bäumte sich auch schon mit unglaublichem Gebrüll die Erde auf. Die Schockwelle riß sie vom Boden hoch; zum Schutz vor umherfliegenden Erdbrocken schoben sie die Hände vors Gesicht. Dann hörten sie, wie der Stuka nach dem Sturzflug wieder hochgezogen wurde, und gleich darauf setzte das Klagegeheul des nächsten Angriffs ein. Die Bombe war nur siebzig Meter entfernt eingeschlagen. Er nahm den Jungen unter den Arm und versuchte, die Frau wieder auf die Beine zu ziehen.
»Wir müssen weiter. Wir sind zu nah an der Straße.« Die Frau antwortete, aber er konnte sie nicht verstehen. Erneut stolperten sie über das Feld. Wie ein Farbenblitz flammte der Schmerz in seiner Seite auf. Der Junge lag in seinen Armen, und wieder schien ihn die Frau aufhalten, ihm ihren Sohn entreißen zu wollen. Sie liefen nun zu Hunderten über das Feld, und alle versuchten, den Waldrand am anderen Ende zu erreichen. Beim schrillen Kreischen der Bombe warfen sie sich hin. Nur der Frau fehlte offenbar jeglicher Instinkt für Gefahr, und er mußte sie einmal mehr zu Boden reißen. Diesmal preßten sie die Gesichter in frisch umbrochene Erde. Als das Kreischen lauter wurde, begann die Frau etwas zu schreien, das sich wie ein Gebet anhörte. Und erst jetzt ging ihm auf, daß sie kein Französisch sprach. Der Einschlag lag auf der anderen Straßenseite, gut hundertdreißig Meter entfernt. Doch der erste Stuka hatte inzwischen über dem Dorf gewendet und kam im Tiefflug zurück. Der Junge war vor Schreck verstummt. Seine Mutter wollte nicht aufstehen. Turner zeigte auf den Stuka, der über die Dächer angeflogen kam. Sie waren direkt in seiner Flugbahn, für einen Streit blieb keine Zeit. Sie rührte sich nicht. Er warf sich in die nächste Furche. Die dumpfen Einschläge der Maschinengewehrkugeln pflügten die Erde auf, und die Motoren brüllten über sie hinweg. Ein verwundeter Soldat schrie. Turner war wieder auf den Beinen. Aber die Frau schlug seine Hand beiseite. Sie saß auf dem Boden und drückte ihren Jungen an sich. Sie sprach Flämisch mit ihm, tröstete ihn, sagte ihm bestimmt, daß alles gut werden würde. Mama würde schon dafür sorgen. Turner verstand kein einziges Wort, doch das machte keinen Unterschied. Sie beachtete ihn gar nicht. Mit leerem Blick starrte der Junge über die Schulter seiner Mutter zu ihm herüber.
Turner wich einen Schritt zurück. Dann rannte er und quälte sich noch über die Furchen, als der Angriff begann. Die fette Erde klebte an seinen Stiefeln. Nur in Alpträumen waren die Füße so schwer. Eine Bombe fiel auf die Straße, mitten ins Dorfzentrum, dorthin, wo die Lastwagen standen. Doch ein Kreischen hatte das andere übertönt, und die nächste Bombe schlug ein, ehe er sich hinwerfen konnte. Die Schockwelle schleuderte ihn mehrere Meter weit und warf ihn mit dem Kopf voran zu Boden. Als er aufstand, waren Mund, Nase und Ohren voll Dreck. Er wollte ausspucken, doch ihm fehlte der Speichel. Er nahm den Finger, aber das machte es nur schlimmer. Erst erstickte er fast an der Erde, dann an seinem verdreckten kleinen Finger. Er blies den Schmutz aus der Nase. Sein Rotz war schwarze Erde und rann ihm über den Mund, aber bis zum Wald war es nicht mehr weit, dort würde es Flüsse und Wasserfälle und Seen geben. Für ihn lag dort das Paradies. Als erneut das Heulen eines angreifenden Stukas anschwoll, versuchte er verzweifelt, das Geräusch einzuordnen. Oder blies da jemand Entwarnung? Seine Gedanken waren so verstopft wie seine Ohren. Er konnte nicht spucken und nicht schlucken, konnte nur mit Mühe atmen und konnte nicht denken. Dann, als er den Bauern sah, der mit seinem Hund noch immer geduldig unter den Bäumen wartete, fiel es ihm wieder ein; er konnte sich an alles erinnern und drehte sich um. Dort, wo die Frau mit ihrem Sohn gesessen hatte, war nur noch ein Bombenkrater. Als er das sah, dachte er, er habe
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