McEwan Ian
Gedanken auf dem Weg nach Dünkirchen empfangen worden waren und später gezeugt wurden. Er würde Cecilia finden. Ihre Adresse stand auf dem Umschlag in seiner Tasche, in der auch das Gedicht steckte. In the deserts of the heart I Let the healing fountain start. Er würde seinen Vater finden. Sie sollte ziemlich gut sein im Aufspüren von Vermißten, die Heilsarmee. Was für ein passender Name. Er würde seinen Vater ausfindig machen oder doch zumindest die Geschichte seines toten Vaters – wie auch immer, er würde der Sohn seines Vaters werden. Sie marschierten den ganzen Nachmittag, bis sie endlich, anderthalb Kilometer voraus, dort, wo graugelber Rauch aus den Feldern aufstieg, die Brücke über den Bergues-Furnes-Kanal sehen konnten. Kein Bauernhaus und keine Scheune war hier stehengeblieben. Mit dem Rauch trieb auch der Gestank von verrottetem Fleisch zu ihnen herüber – abgeschlachtete Kavalleriepferde, die zu Hunderten auf einem Haufen lagen. Gleich daneben qualmte ein Berg Uniformen und Decken. Ein bulliger Obergefreiter zerschmetterte Schreibmaschinen und Vervielfältigungsapparate mit einem Vorschlaghammer. Am Straßenrand standen zwei Sanitätswagen, die Türen offen. Von innen war das Stöhnen und Schreien verwundeter Männer zu hören. Einer von ihnen rief immer und immer wieder, eher wütend als klagend: »Wasser, ich will Wasser!« Wie alle anderen auch ging Turner einfach weiter.
Wieder staute sich die Menge. Vor der Kanalbrücke war eine Kreuzung, und aus Dünkirchen kam auf der Straße, die parallel zum Kanal verlief, ein Troß von Dreitonnern, den die Militärpolizei auf einen Platz hinter jenem Feld zu lenken versuchte, auf dem die Pferde lagen. Doch auf der mit Soldaten vollgestopften Straße kam die Kolonne ins Stocken. Die Fahrer stemmten sich auf die Hupen und fluchten, aber die Menge schob sich unbekümmert an ihnen vorbei. Männer, die nicht länger warten wollten, sprangen von den Lastern. Dann der Schrei: »Deckung!« Doch ehe man Zeit gehabt hatte, sich umzusehen, explodierte der Berg Umformen. Winzige, dunkelgrüne Sergefetzen regneten herab. Weiter vorn schlug eine Abteilung Artilleristen mit Hämmern auf die Zifferblätter und Verschlußblöcke ihrer Kanonen ein. Turner sah, wie einer der Männer weinte, als er seine Haubitze zerstörte. An der Durchfahrt zum selben Feld sprengten ein Militärgeistlicher und sein Küster Benzin über Kisten voller Gebetbücher und Bibeln. Männer liefen über das Feld zu einem Abladeplatz der Truppenbetreuung NAAFI und suchten nach Zigaretten und Alkohol.
Als ein Schrei ertönte, verließen Dutzende die Straße, um sich ihnen anzuschließen. Eine Gruppe saß vor einem Hoftor und probierte neue Schuhe an. Ein Soldat mit vollgestopften Backen schlurfte an Turner vorbei, in der Hand eine Packung rosaroter und weißer Marshmellows. Hundert Meter weiter wurde ein Haufen Gummistiefel, Gasmasken und Regencapes angesteckt, und der beißende Rauch hüllte die über die Brücke nach vorn drängenden Männer ein. Endlich geriet die Lastwagenkolonne in Bewegung und rumpelte auf das große Feld südlich vom Kanal. Wie Ordner auf einem Dorffest wies die Militärpolizei die Lastwagen ein und sorgte dafür, daß sie akkurat, Reihe um Reihe, abgestellt wurden. Nach den Lastern kamen Halbkettenfahrzeuge, Motorräder, Panzerspähwagen und Feldküchen. Die Methode, mit der die Fahrzeuge unbrauchbar gemacht wurden, war simpel, aber wirksam – eine Kugel in den Kühler und den Motor laufen lassen, bis sich der Kolben festfraß.
Die Brücke wurde von den Coldstream Guards bewacht. Zwei ganz nach Vorschrift mit Sandsäcken geschützte Maschinengewehrposten sicherten die Zufahrt. Die Männer waren glattrasiert und musterten mit steinernem Blick und leiser Verachtung den unordentlichen, verdreckten Haufen, der da an ihnen vorüberzog. Auf der anderen Kanalseite markierten weißgestrichene Steine in gleichmäßigem Abstand den Weg zu einem Schuppen, der als Schreibstube diente. In östlicher wie in westlicher Richtung hatten sich die Guards auf ihrem Abschnitt planmäßig eingegraben. Die Häuser am Kanal waren requiriert, einzelne Dachziegel herausgeschlagen und Fenster bis auf schmale Schlitze für die Maschinengewehre mit Sandsäcken verbarrikadiert worden. Ein grimmiger Feldwebel sorgte auf der Brücke für Ordnung. Er schickte einen Oberleutnant samt seinem Motorrad zurück. Keinerlei Ausrüstung oder Fahrzeug erlaubt. Ein Mann mit einem Papagei in einem Käfig wurde
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