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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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steter, zweispuriger Strom von Maschinen, die ihren Zielen entgegenflogen oder zurückkehrten. Turner fragte sich plötzlich, ob er nicht zu einem Schlachtfeld lief, doch wußte er, daß ihm keine Wahl blieb. Ihre Route führte sie ein Stück weit rechts an der Wolke vorbei, östlich von Dünkirchen, bis nah an die belgische Grenze.
»Bray-les-Dunes«, sagte er, als ihm der Name auf der Karte wieder einfiel.
»Klingt gar nicht mal übel«, sagte Nettle.
Sie begegneten Männern, die vor lauter Blasen an den Füßen kaum noch laufen konnten. Ein Soldat mit klaffender Brustwunde lag in einem alten Kinderwagen und wurde von seinen Kameraden geschoben. Ein Feldwebel trieb einen Karrengaul vor sich her, auf dessen Kruppe ein Offizier lag, bewußtlos oder tot, Handgelenke und Füße mit einer Schnur zusammengebunden. Einige Soldaten fuhren Fahrräder, die meisten marschierten zu zweit oder zu dritt. Ein Meldefahrer der Highland Light Infantery saß auf einer Harley-Davidson. Die blutüberströmten Füße baumelten nutzlos herab, sein Beifahrer, beide Arme verbunden, bediente für ihn die Pedale. Da den Männern zu warm geworden war, lagen überall entlang der Straße fortgeworfene Militärmäntel. Turner hatte den beiden Unteroffizieren bereits eingeschärft, sich auf keinen Fall von ihren Mänteln zu trennen. Sie waren etwa eine Stunde gelaufen, als sie hinter sich ein rhythmisches Klacken wie das Ticken einer gigantischen Uhr hörten. Sie drehten sich um. Auf den ersten Blick schien ihnen auf der Straße eine gewaltige Tür horizontal entgegenzufliegen, aber es war nur ein Zug der Welsh Guards, der in Reih und Glied, Gewehr über, unter dem Kommando eines Leutnants im Gewaltmarsch daherkam, die Augen starr geradeaus, die Arme im Takt. Die Menge trat beiseite, um sie durchzulassen. Es waren zynische Zeiten, doch pfiff ihnen niemand hinterher. Dieser Anblick von Disziplin und Zusammenhalt war beschämend, und alle waren erleichtert, als die Guards davongedonnert waren und man den nachdenklichen Schlurfschritt wiederaufnehmen konnte.
Der Anblick war vertraut, das Inventar das gleiche, nur gab es hier mehr von allem, mehr Fahrzeuge, mehr Bombenkrater, mehr Müll. Und mehr Leichen. Er ging durchs Land bis an… – es roch nach Meer, eine erfrischende Brise, die über die flache Marsch heranwehte. Der Strom der Menschen, alle in eine Richtung unterwegs, mit einem einzigen Ziel vor Augen, die unablässig am Himmel kreisenden, hochnäsigen Maschinen, die enorme Wolke, die ihr Ziel an den Horizont zeichnete, all das flößte seinem müden, doch überaktiven Hirn die Hoffnung auf eine lang vergessene Kinderüberraschung ein, eine Karnevalsparty, ein Sportfest, dem sie alle entgegeneilten. Da war eine Erinnerung, die er nicht festmachen konnte, er wurde von seinem Vater auf den Schultern getragen, einen Hügel hinauf, einer tollen Attraktion entgegen, dem Quell der ungeheuren Begeisterung. Auf diesen Schultern säße er jetzt gern. Sein verschwundener Vater hatte nur wenige Andenken hinterlassen. Ein Halstuch mit Knoten, einen bestimmten Geruch, die vage Kontur einer dumpf brütenden, gereizten Person. Hatte er sich vor dem Ersten Weltkrieg gedrückt, oder war er hier irgendwo unter fremdem Namen gestorben? Vielleicht hatte er überlebt. Grace war davon überzeugt, hielt ihn für viel zu feige, viel zu verschlagen, um zur Armee zu gehen, aber sie hatte ihre eigenen Gründe, enttäuscht von ihm zu sein. Fast jeder Mann hier hatte einen Vater, der sich an Nordfrankreich erinnerte oder der hier begraben lag. Er wollte auch so einen Vater, tot oder lebendig. Vor langer Zeit, noch vor dem Krieg, vor Wandsworth, hatte er es genossen, seine Geschichte selbst in der Hand zu haben, ein eigenes Leben – mit ein wenig Hilfe von Jack Tallis – entwerfen zu können. Jetzt begriff er, wie eitel diese Illusion gewesen war. Wurzellos und deshalb nutzlos. Er wollte einen Vater, und aus demselben Grund wollte er ein Vater sein. Es war nicht ungewöhnlich, den Tod zu sehen und deshalb ein Kind zu wollen. Nicht ungewöhnlich, also menschlich, und er wollte es mehr als alles andere. Wenn die Verwundeten schrien, träumte man von einem kleinen Häuschen irgendwo, einem ganz normalen Leben, einer Familie, Zusammenhalt. Überall um ihn herum marschierten Männer, stumm in Gedanken versunken, machten Pläne für ihr Leben, faßten Vorsätze. Wenn ich je aus diesem Schlamassel herauskomme… Sie ließen sich nicht zählen, die erträumten Kinder, die in

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