McEwan Ian
Dorfrand suchen, dann zwei Meilen weiter über den Stacheldrahtzaun klettern und durch den Wald und über die Felder laufen, dann eine Nacht auf dem Hof der Brüder verbringen, und am nächsten Tag, im gelben Morgenlicht, der zitternden Kompaßnadel nach, rasch durch jene herrliche Gegend mit ihren kleinen Tälern eilen, ihren Flüssen und Bienenschwärmen und den Pfad hinauf zum traurigen Haus am Bahnübergang. Dann der Baum. Aus dem Schlamm die angekohlten, gestreiften Tuchfetzen, die Schlafanzugfitzel aufsammeln und ihn herunterholen, den armen, blassen Jungen, und anständig begraben. Sollen die Schuldigen die Unschuldigen begraben, und möge niemand seine Aussage ändern. Und wo war Mace? Wieso half er ihm nicht beim Graben? Unteroffizier Mace, dieser tapfere Bär. Noch etwas, das es zu tun galt, und ein weiterer Grund, warum er nicht fortkonnte. Er mußte Mace finden. Zuallererst aber mußte er die vielen Kilometer wieder zurückgehen, mußte zurück nach Norden zu dem Feld, wo der Bauer immer noch mit seinem Hund hinter dem Pflug herging, und er mußte die Flämin und ihren Sohn fragen, ob sie ihn schuldig fanden an ihrem Tod. Denn manchmal kann man sich vor lauter Selbstanklage zuviel einbilden. Vielleicht sagte sie nein – sagte das flämische Wort für nein. Du hast versucht, uns zu helfen. Du hättest uns nicht beide übers Feld tragen können. Du hast die Zwillinge getragen, aber uns, nein, das konntest du nicht. Nein, du bist nicht schuldig. Nein.
Ein Flüstern, dann spürte er den Atem auf seinem brennenden Gesicht. »Du bist zu laut, Boss.«
Hinter Unteroffizier Nettles Kopf war ein breiter, dunkelblauer Streifen Himmel und darauf eingraviert die zackige, schwarze Mauerkrone der Kellerruine.
»Laut? Was habe ich gemacht?«
»Du hast: ›Nein, nein‹ geschrien und alle aufgeweckt. Ein paar von den Jungs wurden schon ein bißchen sauer.«
Er versuchte, den Kopf zu heben, schaffte es aber nicht. Der Unteroffizier zündete ein Streichholz an.
»Meine Güte, du siehst beschissen aus. Komm. Trink was.« Er richtete Turner auf und setzte ihm die Feldflasche an die Lippen.
Das Wasser schmeckte metallisch. Er trank, und eine lange, ozeanische Welle der Erschöpfung zog ihn tief hinab. Er ging durchs Land, bis er ins Meer fiel. Doch um Nettle nicht zu erschrecken, gab er sich Mühe, vernünftiger zu klingen, als ihm zumute war.
»Hör mal, ich habe beschlossen, noch eine Weile zu bleiben. Muß da noch ein paar Dinge erledigen.«
Mit dreckiger Hand wischte Nettle ihm die Stirn. Er sah keinen Grund dafür, daß Nettle es nötig fand, mit seinem Gesicht, seinem besorgten Rattengesicht, so nah an ihn heranzurücken. Der Unteroffizier sagte: »Kannst du mich hören, Boss? Hörst du mich? Vor knapp einer Stunde war ich draußen pissen. Rate mal, was ich gesehen habe. Die halbe Navy treibt sich auf der Straße rum und trommelt alle Offiziere zusammen. Langsam kommt Zug in den Haufen unten am Strand. Und die Boote sind auch wieder da. Wir fahren nach Hause, Kumpel. Ein Oberleutnant von den East Kents marschiert um sieben mit uns hin. Also schlaf noch eine Runde, aber hör mit dem verdammten Geschrei auf.«
Jetzt fiel er und wollte nur noch schlafen, tausend Stunden schlafen. Es war leichter. Das Wasser war widerlich, aber es half, genau wie die Neuigkeiten, wie Nettles tröstliches Geflüster. Sie würden sich draußen auf der Straße aufstellen und zum Strand marschieren. In Reih und Glied. Ordnung würde herrschen. Kein Mensch brachte einem in Cambridge etwas über die Vorteile einer anständigen Marschordnung bei. Da verehrten sie die freien, die ungebändigten Geister. Die Dichter. Aber was wußten die Dichter schon vom Überleben? Davon, wie man als Gruppe, als Einheit überlebte? Niemand sprang aus der Reihe, niemand stürzte sich auf die Boote, keine Rede davon, daß den Letzten die Hunde beißen oder der Teufel holen würde. Keine lärmenden Stiefel, wenn sie über den Sand zum Wasser liefen. Hilfsbereite Hände, in wogender Dünung über den Dollbord gestreckt, damit die Kameraden ins Boot klettern konnten. Doch die See war ruhig, und nun, da er selbst auch ruhig wurde, begriff er natürlich, wie wunderbar es war, daß sie wartete. Von wegen Arithmetik! Ich warte auf Dich war elementar. Es war der Grund, warum er überlebt hatte. Es war die geläufige Art zu sagen, daß sie alle anderen Männer abweisen würde. Du allein. Komm zurück. Er spürte noch den Kies unterm dünnen Leder seiner Schuhe, konnte ihn
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