McEwan Ian
war sie eine bedeutende Schriftstellerin. Und zu einer Zeit, in der sie von allem einst Vertrauten getrennt lebte – ihrer Familie, ihrem Zuhause, ihren Freundinnen –, war das Schreiben der einzige rote Faden, das einzig Beständige in ihrem Leben. Es war, was sie schon immer getan hatte.
Sie waren selten, diese Augenblicke am Tag, in denen sie ihre Gedanken ungehindert schweifen lassen konnte. Manchmal wurde sie zur Krankenhausapotheke geschickt und mußte warten, bis der Apotheker zurückkam. Dann schlenderte sie über den Flur ins Treppenhaus an ein Fenster, das auf den Fluß schaute. Unmerklich verlagerte sich ihr Gewicht auf den rechten Fuß, während sie, ohne etwas wahrzunehmen, zu den Parlamentsgebäuden hinüberblickte und nicht an ihr Tagebuch, sondern an die lange Geschichte dachte, die sie geschrieben und einer Zeitschrift anvertraut hatte. In Primrose Hill hatte sie sich die Schreibmaschine ihres Onkels geliehen, das Eßzimmer in Beschlag genommen und mit den Zeigefingern die endgültige Version getippt. Eine ganze Woche hatte sie daran gesessen, mehr als acht Stunden jeden Tag, bis Hals und Rücken schmerzten und lauter Kringel wie ausfransende Kaufmannszeichen vor ihren Augen vorüberschwammen. Doch konnte sie sich kaum erinnern, je so glücklich gewesen zu sein wie in dem Augenblick, als sie den vollständigen Papierstapel – einhundertdrei Seiten – ordnete und mit wunden Fingerspitzen das Gewicht ihrer Schöpfung prüfte. Allein ihr Werk. Niemand sonst hätte es schreiben können. Sie behielt einen Durchschlag für sich, schlug ihre Geschichte (welch unzureichendes Wort!) in braunes Papier, nahm den Bus nach Bloomsbury, ging in die Lansdowne Terrace zum Büro der neuen Zeitschrift Horizon und gab ihr Päckchen der zuvorkommenden jungen Frau, die ihr die Tür geöffnet hatte.
Stolz war sie vor allem auf die Anlage, den klaren Aufbau ihres Werks und darauf, wie es alles in der Schwebe ließ, was, wie sie fand, der modernen Sensibilität entsprach. Die Zeit einfacher Antworten war vorbei. Ebenso die Zeit für fiktive Charaktere und Romanhandlungen. Trotz der in ihrem Tagebuch skizzierten Typen glaubte sie nicht länger an Charaktere. Das waren schnurrige Kunstgriffe, die ins neunzehnte Jahrhundert gehörten. Schon das Konzept einer handelnden Figur basierte auf einem Irrtum, was die moderne Psychologie schließlich längst bewiesen hatte. Und die Handlung selbst war auch nur eine rostige Maschine, deren Zahnräder nicht mehr recht ineinandergreifen wollten. Ein moderner Schriftsteller konnte ebensowenig noch Handlung und Figuren erfinden, wie ein Komponist heute noch eine Mozart-Symphonie schreiben konnte. Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen interessierten sie, das bewußte Denken als Fluß durch die Zeit, und wie dieser eilende Strom darstellbar war, wie seine Zuflüsse, die ihn anschwellen lassen konnten, und wie die Hindernisse, die ihn von seinem Kurs abbrachten. Wenn sie doch nur das klare Licht eines Sommermorgens wiedergeben könnte, die Empfindungen eines Kindes, das am Fenster stand, das Schwirren einer Schwalbe über einem Teich. Der Roman der Zukunft würde anders als irgendein Roman der Vergangenheit sein. Dreimal hatte sie Virginia Woolfs Die Wellen gelesen und fand, daß eine große Verwandlung mit der menschlichen Natur vor sich ging, daß allein der Roman, eine neue Art von Roman, die Essenz dieses Wandels erfassen konnte. In eine Psyche einzudringen und zu zeigen, wie sie arbeitete oder bearbeitet wurde, und dies mit einem symmetrisch angelegten Plan zu tun – was für ein künstlerischer Triumph.
Das jedenfalls dachte Schwester Tallis, während sie sich in der Nähe der Apotheke herumtrieb, darauf wartete, daß der Apotheker wiederkam, und ganz vergessen hatte, was ihr drohte, wenn Stationsschwester Drummond sie entdeckte, wie sie dort auf einem Bein stand und über die Themse blickte.
Drei Monate waren vergangen, und Briony hatte kein Wort von Horizon gehört.
Auf ein zweites Schriftstück hatte sie ebenfalls keine Antwort erhalten. Sie war zur Verwaltung gegangen, um Cecilias Adresse in Erfahrung zu bringen. Anfang Mai hatte sie dann ihrer Schwester geschrieben. Und nun war sie allmählich davon überzeugt, daß Schweigen Cecilias Antwort war.
I n den letzten Maitagen wurden deutlich mehr Medikamente geliefert, und man schickte die letzten leichten Fälle nach Hause. Viele Stationen wären inzwischen völlig leer gewesen, hätte man nicht vierzig Matrosen aufnehmen müssen
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