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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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– die Royal Navy wurde von einer seltenen Form von Gelbsucht heimgesucht. Briony blieb keine Zeit mehr, sich um solche Dinge zu kümmern. Für sie begannen neue Krankenpflegekurse und eine Einführung in die Anatomie. Die Lernschwestern im ersten Jahr hasteten vom Dienst zum Unterricht und von den Mahlzeiten zum Studium auf ihren Zimmern. Hatten sie drei Seiten gelesen, konnten sie kaum noch die Augen aufhalten. Big Bens Glockenschläge läuteten jeden Wechsel im Tagesablauf ein, und es gab Momente, in denen beim feierlichen Viertelstundenschlag ein Stöhnen unterdrückter Panik laut wurde, weil den Mädchen aufging, daß sie längst woanders sein sollten. Völliger Bettruhe wurde eine heilende Wirkung zugesprochen. Den meisten Patienten war es deshalb, unabhängig von ihrem Zustand, nicht erlaubt, die wenigen Schritte bis zur Toilette zu gehen. Jeder Tag begann also mit den Bettpfannen. Und die Stationsschwester sah es nicht gern, wenn sie »wie Tennisschläger« über den Flur getragen wurden. Sie mußten »zur Ehre Gottes« gehalten, geleert, ausgespült, gewaschen und bis um halb acht fortgeräumt werden, da es nun Zeit wurde, die morgendlichen Getränke auszuteilen. Den ganzen Tag nichts als Bettpfannen, Decken-Baden und Boden wischen. Die Mädchen klagten über Rückenschmerzen vom Betten machen und über brennende Füße, weil sie pausenlos auf den Beinen waren. Eine eigens damit beauftragte Aushilfe zog die Verdunklungsvorhänge vor die riesigen Stationsfenster. Gegen Abend dann wieder Bettpfannen, Spucknäpfe leeren und Kakao anrühren. Zwischen Schichtende und dem Anfang des Unterrichts blieb ihnen kaum Zeit, um zurück zum Schwesternheim zu hasten und Bücher und Hefte zu holen. An einem Tag hatte Briony zweimal das Mißfallen der Stationsschwester erregt, weil sie über den Flur gerannt war, und beide Male wurde sie mit tonloser Stimme zurechtgewiesen. Nur Blutsturz oder Feueralarm waren für eine Schwester Grund genug, um über den Flur zu rennen.
Doch das eigentliche Reich der Lernschwestern war der Spülraum. Angeblich beabsichtigte man, automatische Bettpfannenund Urinflaschenspüler zu installieren, aber das waren bloß Gerüchte von paradiesischen Zuständen. Vorläufig blieb ihnen nichts anderes übrig, als das zu tun, was andere vor ihnen auch getan hatten. An dem Tag, an dem die Schwester sie zweimal gerügt hatte, weil sie zu schnell über den Flur gelaufen war, durfte Briony eine Extraschicht im Spülraum einlegen. Womöglich nur ein Versehen auf dem ungeschriebenen Dienstplan, aber Briony hatte da so ihre Zweifel. Sie zog die Tür zum Spülraum zu und band sich die schwere Gummischürze um. Der Trick beim Entleeren, das heißt die einzig mögliche Art und Weise, wie sie die Schüsseln leeren konnte, bestand darin, die Augen zu schließen, den Atem anzuhalten und den Kopf abzuwenden. Anschließend wurden die Bettpfannen dann mit einer Karbollösung ausgespült. Wenn sie aber nachzusehen vergaß, ob die hohlen Griffe trocken und sauber waren, würde sie erst recht den Ärger der Stationsschwester auf sich ziehen. Nachdem diese Aufgabe erledigt war, ging sie, am Ende des Tages, dazu über, die fast menschenleere Station zu putzen – Spinde geradezurücken, Aschenbecher auszuleeren, Zeitungen einzusammeln. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf eine gefaltete Sunday Graphic. Bislang waren Nachrichten nur in zusammenhangslosen Bruchstücken zu ihr durchgedrungen. Es blieb einfach nie genügend Zeit, sich hinzusetzen und gründlich Zeitung zu lesen. Sie wußte, daß die Deutschen die Maginot-Linie umgangen hatten, daß Rotterdam bombardiert und die holländische Armee besiegt worden war, und einige Mädchen hatten am Abend zuvor von der drohenden Kapitulation der belgischen Armee gesprochen. Es stand schlecht um den Krieg, aber bestimmt ging es bald wieder bergauf. Ein ähnlich tröstlicher Satz erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit – nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen der Dinge, die er schamlos zu vertuschen suchte: Die britische Armee in Nordfrankreich »befindet sich auf dem strategischen Rückzug in die dafür vorgesehenen Stellungen«. Selbst sie, die über militärische Strategie und journalistische Gepflogenheiten nichts wußte, verstand, daß mit dieser Formulierung eine Flucht umschrieben wurde. Vermutlich war sie der letzte Mensch im Krankenhaus, der begriff, was da vor sich ging. Die immer leerer werdenden Stationen, die zusätzlichen Vorräte, all das hatte sie für bloße

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