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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Kriegsvorbereitungen gehalten. Sie war zu sehr mit ihren eigenen kleinen Sorgen beschäftigt gewesen. Jetzt aber ahnte sie, wie die einzelnen Informationen zusammenhingen, und verstand, was alle anderen längst wußten und worauf sich die Krankenhausverwaltung einrichtete. Die Deutschen waren bis an den Ärmelkanal vorgedrungen, die britische Armee steckte in Schwierigkeiten. Irgendwas war in Frankreich schrecklich schiefgelaufen, man wußte bloß noch nicht, welches Ausmaß die Katastrophe annehmen würde. Das also war diese Vorahnung, diese stumme Angst, die sie um sich herum gespürt hatte.
Etwa um diese Zeit, an dem Tag, an dem die letzten Patienten die Station verließen, erhielt sie einen Brief von ihrem Vater. Nach einem beiläufigen Gruß und der Frage, wie es mit dem Einführungskurs und um ihre Gesundheit stehe, gab er ihr die Neuigkeit weiter, die ihm von einem Kollegen mitgeteilt und von der Familie bestätigt worden war: Paul Marshall und Lola Quincey heirateten Samstag in einer Woche in der Holy-TrinityKirche in Clapham Common. Er gab nicht an, weshalb er vermutete, daß sie dies wissen wollte, und enthielt sich auch sonst jeder weiteren Äußerung. Er unterschrieb einfach nur mit einem Krakel unten auf der Seite – »in Liebe, wie immer«.
Während sie am Vormittag ihren Pflichten nachging, sann sie über diesen Brief nach. Seit jenem Sommer damals hatte sie Lola nicht mehr gesehen, so daß sie in Gedanken ein staksiges Mädchen von fünfzehn Jahren vor den Altar treten sah. Unterdessen half Briony einer heimkehrenden Patientin, einer älteren Dame aus Lambeth, beim Kofíerpacken und versuchte, sich auf deren Beschwerden zu konzentrieren. Die Frau hatte sich einen Zeh gebrochen, und man hatte ihr zwölf Tage Bettruhe versprochen, ihr aber nur sieben gegönnt. Sie wurde in den Rollstuhl gesetzt, und ein Krankenträger brachte sie fort. Im Spülraum rechnete Briony dann nach. Lola war zwanzig, Marshall mußte neunundzwanzig sein. Die Heirat war keine Überraschung; der Schock lag allein in der Bestätigung. Briony hatte nicht nur einen gewissen Anteil an dieser Verbindung, sie hatte sie überhaupt erst möglich gemacht.
In jedem Augenblick, ob auf den Krankenzimmern oder auf dem Flur, spürte Briony, wie ihr die vertrauten Schuldgefühle mit neuem Nachdruck zusetzten. Sie schrubbte die letzten frei geräumten Spinde, half, die Betten mit Karbollösung abzuwaschen, wischte und wienerte die Böden, lief zur Apotheke und zur Krankenhausfürsorge doppelt so schnell wie gewöhnlich, ohne jedoch zu rennen, wurde mit einer zweiten Lernschwester zur Männerabteilung geschickt, um einen Furunkel zu verbinden, und sprang für Fiona ein, die zum Zahnarzt mußte. An diesem ersten schönen Tag im Mai schwitzte sie in ihrer gestärkten Uniform, aber sie wollte nur noch arbeiten, dann baden und schließlich schlafen, bis es wieder Zeit zum Arbeiten war. Doch es half nichts, das wußte sie. Wie aufopferungsvoll oder erniedrigend ihre Arbeit auch sein mochte und wie sehr sie sich auch anstrengte, auf welch hehre Erkenntnisse in den Tutorien und entscheidende Augenblicke auf dem College-Rasen sie auch verzichtet hatte, sie konnte den angerichteten Schaden nie wieder rückgängig machen. Was sie getan hatte, war unverzeihlich.
Zum ersten Mal seit Jahren spürte sie den Wunsch, mit ihrem Vater zu reden. Sie hatte seine Unnahbarkeit stets für selbstverständlich gehalten und nichts anderes von ihm erwartet. Sie fragte sich, ob er ihr, indem er ihr diese Neuigkeit mitteilte, nicht zu verstehen geben wollte, daß er die Wahrheit kannte. Nach dem Tee blieb ihr eigentlich zu wenig Zeit, aber sie ging trotzdem zur Telefonzelle vorm Krankenhauseingang an der Westminster Bridge und versuchte, ihn in seinem Büro anzurufen. Die Vermittlung stellte sie zu einer hilfsbereiten, nasalen Stimme durch, dann wurde die Verbindung unterbrochen, und sie mußte von vorn beginnen, was wieder zu dem gleichen Ergebnis führte. Beim dritten Versuch wurde die Verbindung schon unterbrochen, als jemand sagte: »Einen Moment, ich stelle durch.«
Mittlerweile war ihr Kleingeld aufgebraucht, und sie mußte zurück auf die Station. Doch vor der Telefonzelle blieb sie stehen, um die riesigen Kumuluswolken zu bewundern, die sich am blaßblauen Himmel auftürmten. Die Flutwellen im Fluß jagten zurück zum Meer, spiegelten das Blau und mengten einige Spritzer Grün und Grau darunter. Und Big Ben schien im ruhelosen Himmel endlos vornüberzufallen. Trotz

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